Im Europaparlament tun sich die Sozialdemokraten der EU-Mitgliedsstaaten über die Landesgrenzen hinweg zusammen, ebenso die Konservativen und die Liberalen. Doch Gemeinsamkeiten sind selten. Besonders in der Klimapolitik wird meistens streng nach nationalen Interessen abgestimmt. Trotz drängender Probleme wird sich das auch nach der Europawahl nicht ändern.
Die Abgeordneten des Europaparlaments organisieren sich in den folgenden Fraktionen.
- Die christlich-bürgerlich-konservativen Parteien haben die EVP gegründet – die Europäische Volkspartei. Ihre Fraktion ist mit 216 Abgeordneten die größte.
- Die Fraktion der Progressiven Allianz der Sozialdemokraten im Europäischen Parlament (S&D) stellt 185 Abgeordnete
- Die Vertreter konservativer EU-kritischer und teilweise rechtspopulistischer Parteien gehören mit 77 Abgeordneten der Fraktion der Europäischen Konservativen und Reformer (EKR) an
- Die Fraktion der Allianz der Liberalen und Demokraten für Europa (ALDE) hat derzeit 69 Mitglieder
- 182 weitere Europaabgeordnete gehören kleineren Fraktionen an: den Grünen (GRÜNE/EFA, 52), den Linken (GUE-NGL, 52), den EU-Skeptikern und Populisten in der EFDD (42) sowie den Rechtsextremen in der ENF (36)
- 20 Parlamentarier sind fraktionslos
Die Macht der Fraktionen im Europaparlament ist trotz ihrer teils hohen Mitgliederzahlen sehr beschränkt. Denn bei Abstimmungen gibt es keinen Fraktionszwang, die Abgeordneten orientieren sich zuvorderst an den Interessen der Nation, die sie vertreten.
"Abstimmungsverhalten geht kreuz und quer"
"Die Fraktionen sind vor allem Arbeitsgremien", sagt der Europa-Experte Detlef Drewes im Gespräch mit unserer Redaktion. "Das Abstimmungsverhalten geht immer kreuz und quer." Beim Thema Klimaschutz etwa liegen die Interessen besonders weit auseinander.
Bestes Beispiel: die Grenzwerte für den Schadstoffausstoß von Kraftfahrzeugen. Im vergangenen Februar ging Deutschland mit der Forderung in die Verhandlungen, im Vergleich zu 2020 solle der CO2-Ausstoß bis 2030 um höchstens 30 Prozent gesenkt werden.
Doch Deutschland, das sich lange Zeit als Vorreiter im Klimaschutz sah, wurde überstimmt. Zwar konnte sich auch die sehr ehrgeizige Forderung einer Senkung um 45 Prozent nicht durchsetzen. Doch am Schluss einigte man sich auf 37,5 Prozent. Und durchgesetzt wurde das nicht von einer Koalition aus Linken und Grünen, wie man vorschnell schließen könnte.
Im Gegenteil spielten bei der Abstimmung nicht Ideologien oder politisches Lagerdenken eine Rolle, sondern schlicht nationale Interessen. Deutschland wurde überstimmt von einer Koalition aus Ländern, die sich vom Klimawandel stärker bedroht sehen. Unter anderem von den Niederlanden.
Dort ist der Anstieg des Meeresspiegels heute schon spürbar, das Land fürchtet, dass seine Stauanlagen und Dämme vielerorts nur noch wenige Jahre dem wachsenden Druck standhalten könnten. Diese Bedrohung eint die niederländischen Parlamentarier und die anderer Nationen.
"Die Skandinavier sind insgesamt sehr ehrgeizig bei den Klimazielen", sagt Drewes. Auch in Belgien wird die Senkung des CO2-Ausstoßes als vordringlich angesehen: In Antwerpen etwa darf schon heute kein Diesel-PKW mehr ohne vorherige Genehmigung fahren – egal, welche Schadstoffklasse das Fahrzeug hat. Auch in der EU-Hauptstadt Brüssel ist ein Totalverbot für Diesel ab 2025 geplant.
Vorreiter an der einen Stelle – Bremser an der anderen
Doch die Vertreter niedriger Schadstoffgrenzen sind nicht unbedingt auch auf anderen Gebieten Vorreiter für den Klimaschutz. Wenn es etwa darum geht, wie der zukünftige Energiemix in der EU aussehen soll, gehört Belgien zu den "Bremsern".
In der EU-Hauptstadt, so Drewes, würden "vor jeder Wintersaison Krisenpläne gemacht für den Fall, dass die landesweite Versorgung nicht aufrechterhalten werden kann". Der Grund: Belgien hinkt beim Ausbau der Verteilungsstrukturen hinterher, hat Probleme beim Stromimport.
"Wenn es um den Anteil der regenerativen Energien an der Gesamtversorgung geht", so Drewes, "sind die Unterschiede in der EU einfach sehr groß." Während etwa Polen und Tschechien kaum wissen, wie sie bis 2030 auf den geforderten Anteil von 30 Prozent Ökostrom kommen sollen, ist Portugal deutlich überversorgt mit Sonnenenergie – und kann den überschüssigen Strom nicht verkaufen.
Denn auch dort hinkt der Netzausbau den Erfordernissen hinterher. Noch komplizierter wird es, wenn man den Bedarf berücksichtigt: Das hochindustrialisierte Deutschland kommt schwerer auf 30 Prozent als Länder, deren Energieverbrauch niedriger liegt. Und importiert daher trotz großer Fortschritte beim Umstieg auf alternative Energien nach wie vor Atomstrom aus dem Ausland.
Für Länder wie Polen ist der Umstieg besonders schwer: Nicht nur, weil das Land zur Energieerzeugung traditionell vor allem selbst geförderte Kohle nutzt, sondern auch, weil steigende Energiepreise innenpolitisch schwer durchzusetzen sind.
"Bei den Ungarn, Polen und Tschechen", so Drewes, laute das Argument meistens: "Das geht uns zu schnell und ist für unsere Menschen zu teuer." Noch so ehrgeizige Programme helfen eben nicht, wenn die Bevölkerung nicht mitzieht.
Oft genug zwar geht es bei solchen politischen Manövern um das Verschleiern eigener Versäumnisse in der Vergangenheit und auch schlicht um Wählerstimmen. Gleichzeitig aber wird auch um berechtigte Ängste und Interessen der Bevölkerung verhandelt. Das immerhin, meint Detlef Drewes, sei "ein großer Vorteil dieses Parlaments".
Verwendete Quellen:
- Gespräch mit Detlef Drewes, EU-Korrespondent in Brüssel
- Energieatlas 2018 – Daten und Fakten über die Erneuerbaren Energien in Europa. Herausgegeben von der Heinrich Böll Stiftung, 2018
- Energiedaten. Gesamtausgabe, Stand August 2018. Herausgegeben vom Bundesministerium für Wirtschaft und Energie
- Ein neuer Sozialvertrag für Europa. Manifest der SPE 2019
- PES: Fair Free Sustainable. The Progressive Europe we want. Resolutions.
- Zeit online: "Polen will grüner werden"
- MDR: "Kohleboom in Polen"
- ADAC: "Zufahrtsbeschränkungen in Europa"
- Website des Europäischen Parlaments
"So arbeitet die Redaktion" informiert Sie, wann und worüber wir berichten, wie wir mit Fehlern umgehen und woher unsere Inhalte stammen. Bei der Berichterstattung halten wir uns an die Richtlinien der Journalism Trust Initiative.