Stammwähler sterben aus und Wechselwähler nehmen ihren Platz ein. Wahlforscherin Sigrid Roßteutscher erklärt, warum das so ist.
Vor rund zweieinhalb Jahren konnte die Ampelkoalition noch 51,8 Prozent der Stimmen bei der Bundestagswahl einfahren. Heute käme sich nach aktuellen Umfragen gerade einmal auf 34 Prozent. Die einfache Erklärung wäre, die Menschen sind unzufrieden mit der Regierungsarbeit. Blickt man genauer auf das Wahlverhalten der letzten Jahre und Jahrzehnte stellt man fest, den einstigen Stammwähler, der immer sein Kreuz bei derselben Partei setzt, gibt es kaum noch.
An seine Stelle treten Wechselwähler. Ein wankelmütiger Schlag Menschen, die sich mehr von aktuellen Diskursen als von Parteiideologie lenken lassen. Sie machen Wahlprognosen ungenauer und können Regierungsbildungen erschweren, wenn sich die Stimmen auf immer mehr Parteien verteilen. Sie sind aber aus der Parteien- und Wahlforschung nicht mehr wegzudenken und werden einen immer größeren Stellenwert einnehmen. Mit ihnen beschäftigt sich auch die Deutsche Gesellschaft für Wahlforschung und ihre Vorsitzende Sigrid Roßteutscher.
Frau Roßteutscher ist der Wähler wählerischer geworden?
Sigrid Roßteutscher: Ja, man kann zunehmend sehen, dass die Parteibindungen abnehmen und es mehr Wechselwähler gibt.
Wie problematisch ist das für die Parteien?
Wenn Sie mit Ihrer Partei nicht zufrieden sind, haben Sie drei Optionen. Sie wählen sie trotzdem, weil es halt Ihre Partei ist. Aber dieser Typus nimmt ab. Die zweite Option ist, Sie gehen nicht zur Wahl. Oder drittens, Sie können eine andere Partei wählen und das schmerzt doppelt. Denn die Partei, von der Sie kommen, verliert Sie und gleichzeitig geben Sie einer anderen Partei Ihre Stimme. Die Nichtwähler sind weniger problematisch für die Parteien, weil sie einfach nur nicht wählen gehen.
Nicht wählen zu gehen, ist also besser, als ein Wechselwähler zu sein?
Nein, auch wenn der Wechselwähler für die einzelne Partei bitter ist. Aber nicht wählen zu gehen, ist demokratisch gesehen noch problematischer, weil die Legitimation des demokratischen Systems durch die sinkende Wahlbeteiligung zurückgeht.
Ist die Zunahme der Wechselwähler ein neues Phänomen?
Nein, wir beobachten von Wahl zu Wahl, dass der Trend zur Wechselwahl und zur geringeren Parteibindung geht. Bei der Bundestagswahl 2021 haben sich noch 50 bis 60 Prozent der Wählerschaft fest an eine Partei gebunden. Aber in den 70er- oder 80er-Jahren lag die Zahl der Stammwähler bei 80 Prozent.
Es sind aber im Augenblick sehr dynamische Zeiten, in denen sich ganz viel neu mischt. Daher kann es gut sein, dass wir bei den nächsten Wahlen nicht nur ein graduelles Absinken der Stammwähler, sondern etwas wirklich Dramatischeres sehen können.
Das heißt, so extrem wie jetzt, war es noch nie?
Bei Bundestagswahlen nicht. Aber bei sogenannten Second-Order- oder Nebenwahlen, wie jetzt die Europawahl, haben wir das Wechselwähler-Phänomen schon immer sehr viel stärker gesehen. Die Leute denken, dass es bei diesen Wahlen um nicht so viel geht. Dort wird die Unzufriedenheit mit der eigenen Partei häufiger genutzt, um eine Alternative zu wählen.
Ist das ein gesamtdeutsches Phänomen?
Im Osten ist das eine ganz andere Geschichte, weil die Parteibindungen in Ostdeutschland aus historischer Sicht von Anfang an sehr viel schwächer waren. Daher sind die im September stattfindenden Landtagswahlen in Sachsen, Thüringen und Brandenburg ohnehin Wahlen, bei denen mit einem erhöhten Wechselwähleranteil zu rechnen ist.
Was sind die Gründe für den Anstieg an Wechselwählern?
Die Gesellschaft hat sich massiv verändert. Wir haben einen höheren Bildungsgrad in der Bevölkerung, weniger Arbeiterjobs, dafür mehr Dienstleistungsberufe und eine immer stärkere Abkehr von der Kirche. All das führt dazu, dass sich die klassischen Milieus, wie wir sie bis in die 70er- und 80er-Jahre hatten, massiv auflösen. Wenn Sie damals Katholik waren, haben sie Union gewählt. Waren Sie Arbeiter, setzten Sie sehr wahrscheinlich Ihr Kreuz bei der SPD. Das ist heute nicht mehr so.
Heute buhlen viel mehr Parteien als damals um die Wählergunst. Kann es uns irgendwann so gehen wie den Niederlanden oder Italien, wo die Regierungen immer instabiler werden?
Wenn man ganz viele unterschiedliche Gruppen für eine Regierungsmehrheit braucht, ist die Wahrscheinlichkeit, dass das Ausscheren einer Partei diese Mehrheit gefährdet, logischerweise größer. Aber instabiler müssen sie deswegen nicht zwingend sein. Wir müssen uns einfach daran gewöhnen, dass es zukünftig mehr Koalitionen aus unterschiedlichen politischen Spektren geben wird. Daraus ergeben sich ganz natürlich Konflikte, die jetzt als Dauerstreit wahrgenommen werden, aber das sind notwendige Diskussionen, damit die unterschiedlichen Positionen zusammenfinden können.
Wenn die Wechselbereitschaft weiter zunimmt, wie können Parteien ihre Wähler noch an sich binden?
Ein Ort, um vor allem junge Menschen einzufangen, sind die sozialen Medien. Das Terrain wird derzeit fast ausschließlich von der AfD bespielt. Und der Wahlkampf muss wieder auf die Straße, dort wo die Menschen leben. Hier hat besonders die SPD ein Problem. Nirgendwo ist der Anteil der Nichtwähler so hoch, wie in den ehemaligen SPD-Hochburgen.
Woran liegt das?
Viele SPD-Politiker sprechen nicht mehr die Sprache der Menschen vor Ort. Das hat mit dem Bildungsaufstieg der 60er- und 70er-Jahre zu tun. Die SPD hat kaum noch Leute, die in den betroffenen Stadtteilen wohnen. So kommt man auch nicht mehr beim Bäcker ins Gespräch, was früher selbstverständlich war. Die Vor-Ort-Präsenz ist also mindestens genauso wichtig, wie die soziale Medienpräsenz.
Wenn Sie einen Blick in die Zukunft werfen, wie schwierig wird es zukünftig sein, Regierungen zu bilden?
Es wird mindestens so schwierig bleiben, wie es jetzt ist. Die klassische Zweier-Koalition wird immer unwahrscheinlicher. Daher werden auch zukünftige Regierungen immer Konflikte haben, da sie sich nicht länger bequem innerhalb des „linken“ oder „rechten“ Lagers einrichten können. Daher wird es immer wichtiger werden, zu vermitteln, wofür genau die jeweilige Koalition steht. Je mehr Köche, umso mehr Kompromisse sind nötig. Sollte also die Brandmauer der CDU halten, dann muss sich die Union darauf einstellen, auch mit linken Partnern zu koalieren, genau wie jetzt SPD und Grüne die FDP an Bord holen mussten.
Solche von Kompromissen geprägten Regierungen können zu mehr Politikverdrossenheit führen. Wird der Anteil der Nichtwähler dadurch steigen?
Die Wahlbeteiligung ist in den vergangenen Jahren sogar ein bisschen gestiegen. Das hat mit der AfD zu tun. Von daher erwarte ich auch eine etwas höhere Wahlbeteiligung für die nächsten Wahlen. Die AfD rekrutiert Nichtwähler. Aber nicht nur für sich, sondern auch mindestens drei- bis fünfmal so viele bei den sogenannten etablierten Parteien. Wie es langfristig aussieht, wenn eine Regierung nach der anderen in den Augen der Wähler versagt, ist wieder eine ganz andere Geschichte. Aber ich hoffe doch auch sehr auf Lerneffekte. Die Ampelkoalition aus drei Parteien ist absolut neu für deutsche Verhältnisse. Es ist zu hoffen, dass Parteien und Wählerschaft zumindest mittelfristig lernen, mit den Nachteilen und Vorteilen solcher das ideologische Spektrum übergreifenden Regierungskoalitionen umzugehen. Daher bleibe ich optimistisch.
Über die Gesprächspartnerin
- Dr. Sigrid Roßteutscher ist seit 2007 Professorin am Fachbereich Gesellschaftswissenschaften der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Sie studierte Politikwissenschaft und Geschichte an der Universität Mannheim und promovierte sich mit einer Arbeit zu Wertekonflikten im wiedervereinigten Deutschland am Europäischen Hochschulinstitut in Florenz (1997). 2006 erfolgte die Habilitation an der Universität Mannheim zur Rolle von Religion in europäischen Zivilgesellschaften. Roßteutscher war 2007 Gründungsmitglied der Deutschen Gesellschaft für Wahlforschung (DGfW) und fungierte seitdem als deren stellvertretende Vorsitzende. Als Nachfolgerin Rüdiger Schmitt-Becks wurde sie 2019 die Vorsitzende der DGfW.
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