Strafrechtlich mag, was Jerome Boateng betrifft, derzeit alles in Ordnung sein, doch ihn wieder ins Rampenlicht in Deutschland zu stellen, ist moralisch verwerflich. Der FC Bayern hat es verpasst, ein wichtiges gesellschaftliches Zeichen zu setzen.

Tamara Keller
Eine Kolumne
Diese Kolumne stellt die Sicht von Tamara Keller (FRÜF) dar. Informieren Sie sich, wie unsere Redaktion mit Meinungen in Texten umgeht.

Alle Frauen in meinem Umfeld haben schon einmal in irgendeiner Form sexuelle Belästigung erlebt. Ich weiß das, weil ich mit ihnen darüber gesprochen habe. Zeitgleich kenne ich aber keinen Mann in meinem Umfeld, der so etwas schon mal einer Frau angetan haben soll. Weil Männer darüber nicht sprechen oder sich ihres Fehlverhaltens nicht bewusst sind. Man braucht keine Mathematikerin sein, um zu erkennen, dass diese Rechnung am Ende für unsere Gesellschaft nicht aufgeht. Wo es Betroffene gibt, muss es auch Täter geben.

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Warum ich dieses Beispiel nenne? Es zeigt sehr einfach, wie oft Frauen in dieser Gesellschaft nicht geglaubt wird. Das gilt auch für andere Themen, die oftmals in der Gesellschaft als Tabu gelten: wie häusliche Gewalt und Partnerschaftsgewalt. Jerome Boateng soll gegenüber einiger seiner Ex-Partnerinnen gewalttätig geworden sein. Der FC Bayern München will trotzdem so tun, als habe es diese Fälle nicht gegeben. Das ist fatal.

Männer schützen Männer, trotz moralisch verwerflichen Fehlverhaltens

Nachdem Boateng an einem Bayern-Training teilgenommen hatte, gab es viel Kritik - vor allem von Fanseite - gegenüber einer erneuten Verpflichtung des Innenverteidigers. Der Sportdirektor des FC Bayern, Christoph Freund, verteidigte den möglichen Transfer (bis Ende der Woche soll er abgeschlossen sein), mit den Worten, bei Boateng handele es sich um jemanden, den er als "einen sehr angenehmen Mann kennengelernt habe." Männer schützen Männer, trotz moralisch verwerflichem Fehlverhalten. Eine alte Masche, mit der übergriffiges Verhalten, egal ob gewaltvoll oder sexuell motiviert, gerechtfertigt oder - wie hier von Freund - kleingeredet wird.

Boatengs Summe an Fehlverhalten ist nicht so einfach zusammenzufassen. Seit der Vertrag des Innenverteidigers im Sommer 2021 bei den Bayern auslief, sind im "Spiegel" und bei "Correctiv" in Kooperation mit der "Süddeutschen Zeitung" zwei große Recherchen erschienen, die darlegten, dass es viele Hinweise gäbe, dass Boateng gegenüber seinen Ex-Partnerinnen gewalttätig gewesen sein könnte. Er selbst sagt, er habe nichts strafrechtlich Relevantes getan. Das stimmt - zumindest im Jetzt, weil das jüngste Urteil aufgrund eines formellen Fehlers bei Gericht revidiert wurde.

Bald soll erneut vor Gericht verhandelt werden, ob er gegenüber seiner Ex-Freundin und Mutter der gemeinsamen Zwillinge im Jahr 2018 gewalttätig geworden ist. Doch nur weil Boateng bis dato kein strafrechtlich relevantes Fehlverhalten vorzuweisen hat, heißt das nicht, dass er sich moralisch immer richtig verhalten hat. In der Berichterstattung ist von mehreren Drohungen via Text- und Sprachnachricht die Rede.

Das System Fußball: Ein System der Mächtigeren?

Die Correctiv-Recherche gibt sogar Einblicke in mehrere Fälle rund um Profis und deren Ex-Frauen, die ein System der Mächtigeren offenbaren, die ihre Macht missbrauchen. Ja, es handelt sich dabei ums System Fußball mit Spielern, Beratern und Vereinen, die alles dafür tun, um Frauen zu diffamieren, nur um ihre Stars - die im Profigeschäft mehrere Millionen wert sind - zu schützen. Das jetzige Verhalten des Rekordmeisters bestätigt wiederum das Erhalten dieses Systems und zeigt, wie so ein Schutz aussehen kann: Sportdirektor Freund tat sämtliche Berichterstattung rund um Boateng als "private Geschichte" ab.

Neu ist diese Art von Verhalten für keinen Fußballfan. Griffen ähnliche Mechanismen damals schon für Superstar Cristiano Ronaldo, bei dem es um Vergewaltigungsvorwürfe ging, die aber nie seinem Image schadeten. Eine Niederlage vor allem für die Personen, die potenziell von sexuellen Übergriffen und häuslicher Gewalt betroffen sind: In erster Linie zeigen diese Handlungen, dass potenzielle Täter sich nicht vor Konsequenzen fürchten müssen - erst recht nicht, wenn sie Fußballstars sind.

Ein Mittelfinger an alle Fans und potenziell Betroffenen

Auch der FC Bayern ruht sich auf diesem System aus und ignoriert damit, dass er seine eigenen Fans vor den Kopf stößt. Denn die Causa Boateng behandelt einen Missstand, der in unserer Gesellschaft häufig auftaucht: Im Jahr 2022 wurden 240.547 Fälle von häuslicher Gewalt bei der Polizei angezeigt, Expertinnen und Experten gehen von einer weitaus höheren Dunkelziffer aus. Diese Zahlen zeigen, dass häusliche Gewalt nie als "private Geschichte" abgetan werden sollte. Es ist sogar gefährlich, so etwas als privat zu bezeichnen, denn es verharmlost das Geschehene und ignoriert, dass es am Ende auch in Schlimmeres münden kann: Fast jeden dritten Tag stirbt eine Frau durch die Hand ihres Partners oder Ex-Partners in Deutschland.

Wer also Aussagen wie der FC Bayern tätigt, der ignoriert dem Fußball zuliebe gesellschaftliche Missstände. Klar, der FC Bayern kann diese Missstände auch nicht lösen. Aber so eine Verpflichtung ist auch eine Aussage: Ein Mann mit Status kann sich alles leisten. Insbesondere wenn er Fußballprofi ist. Es ist ein Mittelfinger an alle Fans und auch an alle potenziell Betroffenen von sexuellen Übergriffen und häuslicher Gewalt. Denn würden die Bayern auf diesen Neuzugang verzichten, könnte das auch ein Signal sein: Wir hören euch zu. Wir glauben Betroffenen und nicht den potenziellen Tätern. Diese Chance wurde wieder einmal verpasst.

Verwendete Quellen:

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