Bei der aktuellen Europameisterschaft wird diskutiert, ob die Abseitsregel verändert werden soll. Unsere Kolumnistin Petra Tabarelli ist Expertin für Fußballregeln und weiß, warum der Fußball ohne Abseits nicht kann.

Eine Kolumne
Diese Kolumne stellt die Sicht der Autorin dar. Hier finden Sie Informationen dazu, wie wir mit Meinungen in Texten umgehen.

Mehr News zur Fußball-EM

Nach dem zweiten Gruppenspiel der DFB-Auswahl bei der diesjährigen EM kam die Frage nach dem Sinn und Zweck der Abseitsregel. Eine Frage, die sich leicht beantworten lässt: Sie ist eine Schutzregel für die Abwehrspieler*innen, so die Erklärung 1930.

“Der Verteidiger soll vor einem Gegner geschützt werden, der in unmittelbarer Nähe des Tores steht und darauf wartet, dass ihm der Ball aus größerer Entfernung zugespielt wird. Die Abseitsregel ist keine Straf-, sondern eine Schutzregel.” (Rosenberger/Hofschneider: Der Schiedsrichter)

Aus heutiger Sicht würde man ergänzen: Und sie macht das Spiel offensiver und damit unterhaltsamer.

Mehr zur EM 2021 finden Sie hier

Die meisten Regelwerke vor Gründung der FA in London kannten eine Abseitsregel und ebenso die FA Rules selbst. (Wenn Sie etwas anderes lesen: Es ist falsch.)

1863 bis 1866 galt für die FA-Mitglieder ein striktes Abseits, das es beispielsweise heute noch beim Rugby oder American Football gibt: Jede Person zwischen Ball und gegnerischem Tor ist abseits.

Diese Regel machte das Spiel sehr statisch: Man konnte nur mit zehn Personen den Ball nach vorne treiben. Eine Person, die ihn dribbelt, alle anderen dahinter als Absicherung. Kombinationsspiel? Schlicht nicht möglich.

Die Geschichte der Abseitsregel geht weit zurück

1866 gab es dann die Regeländerung, die den modernen Fußball, das Kombinationsspiel und damit Fußballtaktik möglich machte: Nun war jede Person zwischen Ball und gegnerischem Tor abseits, sofern nicht mindestens drei Gegenspieler*innen zwischen ihr und dem eigenen Tor standen.

1925 dann die nächste große Änderung. Aus der Drei wurde eine Zwei und diese kleine Veränderung bewirkte, dass unter anderem in England mehrere Clubs während einer Saison 100 Tore mehr erzielten - aber auch sehr viel bekamen. Und das war auch so beabsichtigt, denn durch die Änderung sollte der Fußball offensiver, torreicher werden - und damit auch besser zu vermarkten. Auch diese Regeländerung hatte Einfluss auf den modernen Fußball, wenngleich nicht auf die spielerische, sondern kommerzielle Richtung.

Und auch die letzte große Änderung der Abseitsregel von 1990 (gleiche Höhe ist kein Abseits) sollte das sehr defensive Spiel dieser Zeit für Zuschauer*innen attraktiver machen. Auch jetzt, in den 2020er Jahren, gibt es wieder Überlegungen, die Abseitsregel zu ändern, um das Spiel schneller und offensiver zu machen.

Lesen Sie auch: Nach Regenbogenfarben-Verbot: Was Twitter-User vorschlagen und was gemacht wird

Sowie etwas zur Einnahmequelle wird, wird auch geschummelt

Doch warum braucht es überhaupt eine Abseitsregel? Wäre es nicht sinnvoller, das nur vorne im Strafraum ein*e Spieler*in im strafbaren Abseits steht?

Tatsächlich wurde diese Variante und noch weitere mehrmals in den letzten Jahrzehnten getestet, doch sie brachten keine große Erleichterung oder erhoffte Änderung des Spieles. Es wird aber sicher weitere Experimente rund um das Abseits geben.

Die Abseitsregel ist nicht nur eine gerechtere Variante als kein Abseits oder ein striktes Abseits, sie ist auch eng mit der Vereinheitlichung der Fußballregeln über Ländergrenzen hinweg verbunden. Diese Vereinheitlichung wurde durch den Fußballboom der 1880er Jahre in England, vergleichbar mit den 1920er Jahren in Deutschland, notwendig.

Der Vereinheitlichung vorausgegangen war die Wandlung des Fußballspiels vom Unterhaltungsspiel zum Wettbewerb: Das Fußballspiel wurde von verschiedenen Unternehmern und Berufsgruppen als Einnahmequelle erkannt. Es ging jetzt nur noch um Sieg, Einkommen, Prestige - und das war auch der Beginn des "Schummelns".

Ein professioneller Sport erfordert eine professionelle Handhabung

Man könnte sagen: Die Abseitsregel ist im modernen Fußball genauso notwendig wie ein unabhängiger Schiedsrichter auf dem Feld. Es reicht nicht mehr, dass man, wie früher auf dem Schulhof, kurz diskutiert, ob es ein Foul, ein Handspiel oder Abseits war, und dann weiterspielt.

Wir können aber auch an der Abseitsregel sehen, wie sich Gesetze und Spiel gegenseitig beeinflussen: Die Gesetzesänderung der FA von 1866 beeinflusste das Kombinationsspiel. Dieses wurde später als zu defensiv empfunden, soddass das Gesetz als Konsequenz geändert wurde. Ein Fußballspiel ohne Abseits? Möglich, aber dann wäre es ein gänzlich anderes Spiel.

Interessiert Sie, wie unsere Redaktion arbeitet? In unserer Rubrik "Einblick" finden Sie unter anderem Informationen dazu, wann und worüber wir berichten, wie wir mit Fehlern umgehen und woher unsere Inhalte kommen.
JTI zertifiziert JTI zertifiziert

"So arbeitet die Redaktion" informiert Sie, wann und worüber wir berichten, wie wir mit Fehlern umgehen und woher unsere Inhalte stammen. Bei der Berichterstattung halten wir uns an die Richtlinien der Journalism Trust Initiative.