In der Amazon-Dokumentation über Borussia Dortmund kommt in vielen Passagen Lucien Favre zu Wort. Was der Trainer sagt und seinen Spielern einzuimpfen versucht, klingt plausibel, aber allenfalls fachlich überzeugend. In seiner Stimme liegt eine Zögerlichkeit, die vielleicht dem Schweizer Dialekt geschuldet ist. Mitreißend, ein Feuer entfachend, doziert er nicht. Neun Punkte Vorsprung auf Bayern München verspielte Dortmund in dieser Zeit.

Eine Kolumne
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Die neue Bundesliga-Saison erinnert daran. Als der TV-Reporter bei Lucien Favre Anspruch und Wirklichkeit miteinander vergleichen wollte, rang der BVB-Trainer um jedes Wort. Ihm fiel keine schlüssige Erklärung für das 1:3 bei Aufsteiger Union Berlin ein. Was Favre aber unbedingt loswerden wollte, war aus seiner Antwort unschwer herauszulesen: Ihm gefällt ganz und gar nicht, dass die Vereinsführung von der eigenen Mannschaft die Meisterschaft erwartet.

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Dem BVB nützt die Spielerqualität nichts

Seine Schlüsselsätze lauten: “Wir müssen aufpassen, was wir sagen. Ich sage das seit langem. Es ist viel zu tun. Wir können es nicht mehr ändern.” Daraus machte Bild die Schlagzeile: “Favre warnt den BVB”. Langsam kommt die Zeit, dass die BVB-Führung diese Schlagzeile umgekehrt liefern sollte: “Der BVB warnt Favre”. Mit seiner Hasenfuß-Mentalität kann Borussia Dortmund jedenfalls nicht Meister werden.

An der Klasse der Mannschaft, die man ihm zur Verfügung gestellt hat, kann die Niederlage nicht liegen. Der BVB-Kader ist das 18-fache des Union-Kaders wert. Ein Verweis auf die Unerfahrenheit verfängt nicht. Seit der Verpflichtung von Mats Hummels ist die Mannschaft jetzt im Schnitt über zwei Jahre älter als zum Beispiel RB Leipzig. Und die Leipziger haben vor zwei Wochen 4:0 bei Union Berlin gewonnen.

Schon eher stimmt, was Kapitän Marco Reus anmerkte: “Wir glauben manchmal, dass wir mit der Qualität, die wir haben, unsere Spiele locker gewinnen. Wir müssen erst den Willen und die Leidenschaft an den Tag legen - dann kommt das Spielerische.” Wille und Leidenschaft - wer soll die entfachen, wenn nicht ein Trainer, der aus voller Überzeugung die Mentalität in seiner Mannschaft erzeugen soll? Sieben Kilometer lief der Gegner mehr.

Lucien Favre muss den Meistertitel holen

Vermutlich fühlt Favre sich sogar bestätigt, dass er ständig und mit denselben Vokabeln vor dem nächsten Gegner warnt, sogar vor Aufsteigern wie Köln und Union. Aber es ist eine Self Fulfilling Prophecy, eine sich selbst bestätigende Prophezeiung, wenn man seiner eigenen Mannschaft den Gegner stark redet und dann aus Respekt den Gegner erstarken lässt. “Das Union-Spiel erinnerte mich an Spiele in der Rückrunde”, sagt Sportdirektor Michael Zorc.

Wenn man im Mittelfeld den eher zerstörerischen Spielertypen Thomas Delaney als Ersatz für den verletzten Aufbauspieler Axel Witsel aufstellt, will man Sicherheit herstellen und nicht Kreativität. Dieses kreative Element wäre aber notwendig gewesen, um aus 75 Prozent Ballbesitz mehr als die zwei lächerlichen Torschüsse zu produzieren. Risiko bei spielerischer Überlegenheit zeichnet einen Meistertrainer aus. Nicht Angst vor der eigenen Courage.

Die Vereinsführung wollte der unnötigen Vorsicht der Vorsaison entgegenwirken, indem Geschäftsführer Aki Watzke die erwartete Rendite aus 127 Mio. Euro Transferausgaben von Anfang an beim Namen nannte: den Meistertitel. Den muss Favre liefern. Dass er lieber zurück in die Komfortzone drängt, wo ihm der Leistungsdruck keine Pein bereitet, statt nach der Union-Pleite Kampfgeist auszustrahlen, lässt für den Saisonverlauf nichts Gutes ahnen.

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