Anna Schulte ist seit 2020 Schiedsrichterin. Seitdem hat sie jegliche Form von Beleidigung und viel Sexismus erlebt. Im Interview verrät sie, warum sie trotzdem weitermacht.

Ein Interview

Frau Schulte, wie kam es dazu, dass Sie Schiedsrichterin wurden?

Anna Schulte: Ich fand den Job von Schiedsrichtern immer schon spannend. Mein erster Verein hat mich aber nicht ganz ernst genommen und mich nie zu einem Lehrgang angemeldet. Bei meinem zweiten Verein konnte ich es dann einfach mal ausprobieren, ich wollte Fußball nochmal aus einer anderen Sicht kennenlernen. Und ich bin dabei geblieben, weil es unglaublich Spaß macht, weil man tolle Leute kennenlernt, super Kollegen hat und den Fußball nochmal auf eine ganz andere Art und Weise wahrnimmt und erleben kann.

Hat der Spaß in den vergangenen Jahren etwas nachgelassen?

Ich schaue nicht mehr ganz so romantisch auf den Sport, sondern realistischer. Es gibt Spiele, die definitiv keinen Spaß mehr machen. Das sind vielleicht nur zwei Prozent, aber da schlagen Menschen derart über die Stränge, dass man sich fragt, ob man wirklich das Richtige macht oder nicht besser hinwerfen sollte.

Geben Sie mal ein Beispiel.

Viele Leute glauben ja, dass sie die Regeln besser kennen als die Schiedsrichter. Die wollen den Job nicht machen, sind aber trotzdem die ersten am Rand, die einen beleidigen und einem die Schuld dafür geben, dass es für die eigene Mannschaft nicht läuft. Man hat regelrecht den Eindruck, als würden diese Menschen einen Mantel ablegen, sobald sie auf den Fußballplatz kommen, und sich alles Mögliche herausnehmen.

"Von Spielern wurde ich noch nie unter der Gürtellinie beleidigt"

Forschungen haben ergeben, dass Beleidigungen in der Regel von Zuschauern ausgehen. Werden Sie auch von Spielern beleidigt?

Bei den Spielern bleibt es im Rahmen. Da wird es mal emotional, aber bisher wurde ich noch nie unter der Gürtellinie oder sonst grenzüberschreitend beleidigt. Das kommt in der Regel von außen, was aber irgendwann auch die Stimmung auf dem Platz verschlechtert.

Was tun Sie, wenn das passiert?

Ich versuche, die Ursache zu finden, warum ein Spiel gerade gekippt ist. Was war der Ausgangspunkt, was hätte ich besser machen können? Oft liegt es aber einfach nicht an einem selbst.

Sind solche Kipppunkte schlimmer und häufiger geworden?

Ja. Ich habe das Gefühl, dass der Ton auf den Plätzen und vor allem neben den Plätzen rauer geworden ist. Es wird unfreundlicher, persönlicher. Und das bleibt ja nicht auf den Plätzen, sondern wird auch in den sozialen Medien ausgetragen. Das finde ich sehr schade. Für mich stellt sich immer die Frage, ob die Menschen im normalen Leben genauso sind.

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Was macht das mit Ihnen?

In jüngeren Jahren hätte mich das wohl aus der Bahn geworfen. Man verliert ja ein Stück weit den Glauben an die Menschheit. Am meisten schockiert mich, dass die Beleidigungen von Leuten im Alter meiner Eltern oder Großeltern kommen. Die sollten doch eigentlich gewisse Umgangsform haben.

Sind Sie bei jedem neuen Mal genauso verletzt wie beim ersten Mal?

Das hängt davon ab. Manche Sachen sind krass, andere kriegt man gar nicht richtig mit, weil man während des Spiels in seinem Tunnel ist. Und wenn ich etwas mitkriege, sage ich mir oft: "Egal, die 30 Minuten schaffen wir auch noch. Jetzt zeige ich euch, warum ich hier stehe und dass ich es verdient habe, hier zu stehen."

"Mir wurde auch schon mal gesagt: 'Nein, du bist nicht unsere Schiedsrichterin.'"

Müssen Sie sich als Frau besonders behaupten?

Mir wurde auch schon mal gesagt, als ich mich vor dem Spiel bei einem Trainer vorgestellt habe: "Nein, du bist nicht unsere Schiedsrichterin. Unser Schiedsrichter kommt schon noch. Wir kriegen einen richtigen Schiedsrichter." Und es gibt auch Zuschauer, die sagen: "Das kann sie nicht sehen, sie ist ja eine Frau." Andere wiederum loben nach dem Spiel: "Ey, richtig toll gemacht. Wir hätten gerne öfter eine Schiedsrichterin." Insgesamt gleicht sich das aus.

Hatten Sie schon einmal richtig Angst?

Ich glaube, dass sich jeder Schiedsrichter schon einmal unsicher gefühlt hat. Mit einigen meiner männlichen Kollegen möchte ich nicht wirklich tauschen. Aber in dieses "Was ist wenn?" darf man eigentlich gar nicht reinkommen, sonst fehlt der Fokus, den man für das Spiel braucht.

Treffen Sie Vorkehrungen, indem Sie etwa eine Begleitung zum Spiel mitnehmen?

Mein Freund würde mitkommen und war auch schon ein-, zweimal dabei. Aber nicht, um mich zu schützen.

"Man weiß ja nicht, wozu solche Leute noch fähig sind"

Sind Frauenspiele einfacher zu pfeifen als Männerspiele?

Da ich selbst lange gespielt habe, kenne ich die vielen kleinen Tricks, die Spielerinnen anwenden. Und das Rumgezicke. Insgesamt würde ich aber sagen: Bei den Frauen geht es etwas fairer zu, Männer konkurrieren mehr – und sind ein wenig wehleidiger.

Was war Ihr bislang schlimmstes Erlebnis?

Ich hatte ein Spiel in einer unteren Liga, qualitativ nicht sonderlich ansprechend, an einem Freitagabend. Die Stimmung, das ganze Setting war unglaublich negativ. Als ich nach dem Spiel zum Auto gehen wollte, fuhr jemand mit dem Fahrrad an mir vorbei. Ich konnte nicht erkennen, wer das war. Dieser Jemand sagte einfach nur, dass es besser wäre, wenn es mich nicht mehr geben würde. Das war wirklich heftig, da hatte ich lange dran zu knacken. Natürlich hat mir das auch Angst gemacht. Man weiß ja nicht, wozu solche Leute noch fähig sind.

Wie haben Sie dieses Erlebnis abgeschüttelt?

Viele haben mir geraten, das erstmal sacken zu lassen, eine Pause zu machen. Aber ich wusste: Wenn ich eine Pause einlege, höre ich ganz auf. Ich habe sehr viel Unterstützung vom Kreis bekommen. Einige haben einfach nur auf mich aufgepasst, andere haben mich erstmal wieder verstärkt als Assistentin eingesetzt. Das hat mir Sicherheit zurückgegeben. Ich wollte mir am Ende den Spaß an meinem Hobby nicht nehmen lassen. Sonst hätte dieser Typ auf dem Rad ja alles bekommen.

Welchen Rat würden Sie Frauen geben, die darüber nachdenken, Schiedsrichterin zu werden?

Einfach ausprobieren. Man findet tolle Menschen, die das Hobby mit einem teilen, und richtig gute Freunde.

Über die Gesprächspartnerin

  • Anna Schulte (26) hat im September 2020 als Schiedsrichterin angefangen. Seitdem stand sie bei zahlreichen Spielen im Männer-, Frauen- und Jugendfußball auf dem Platz. Die höchsten Ligen, in denen sie Spiele geleitet hat, sind bei den Herren die Bezirksliga und bei den Frauen die Regionalliga.

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