1988 – seit diesem Jahr ist viel passiert: Die USA haben sechs weitere Präsidenten erlebt, Deutschland ist wiedervereint und es wurden neun Fußball-WM-Finals gespielt. An zwei Ereignissen aus diesem Jahr war bislang aber nicht zu rütteln: die Weltrekorde über die 100 und 200 Meter der Frauen. Aufgestellt vor 35 Jahren von Florence Griffith-Joyner. Ein Porträt über eine Weltrekordlerin, der der Status einer Legende verwehrt blieb – und die vor 25 Jahren viel zu früh starb.

Ein Porträt
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Es ist der 16. Juli 1988. In Indianapolis finden die US-Leichtathletik-Trials, die Ausscheidungswettkämpfe für die Olympischen Spiele im südkoreanischen Seoul, statt. Etwa gegen 14:35 Uhr Ortszeit steigt auf Bahn fünf eine junge Frau in den Startblock, die schon allein wegen ihres Outfits auffällt. Ein Hosenbein ihres Sprint-Bodys ist lang, das andere nicht vorhanden, darüber trägt sie eine kurze, helle Sprinthose. Ihre langen, schwarzen Haare sind lose in einem Halb-Zopf zusammengeklippt, ihre langen Fingernägel orange-rot lackiert.

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Mit einer Bestzeit von 10,96 Sekunden tritt sie in diesem 100-Meter-Viertelfinale der Trials an. Beachtlich, aber dennoch 0,2 Sekunden langsamer als der Weltrekord - eine halbe Ewigkeit über die 100 Meter. Als der Startschuss fällt, scheint die ersten 40 Meter alles offen. Plötzlich legt die junge Frau aber einige Meter zwischen sich und ihre Konkurrenz - und läuft nach 10,49 Sekunden über die Ziellinie. Der Weltrekord? Pulverisiert.

Auffälliges Outfit, lange Fingernägel: Flo-Jo - hier bei den Trials für die Sommerspiele 1988 - war auch auf der Tartanbahn eine schillernde Figur. © imago images/PCN Photography/Paul J Sutton/DUOMO

Rund zwei Monate später wiederholt Flo-Jo bei Olympia das Kunststück, diesmal über die 200 Meter: Schon im Halbfinale knackt sie mit 21,56 Sekunden den Weltrekord deutlich (davor 21,71 Sekunden) und legt rund anderthalb Stunden später im Finale eine Fabelzeit von 21,34 Sekunden nach. Es ist ihr zweites Gold bei diesen Spielen, denn auch die 100 Meter gehörten ihr. Dass sie ein paar Tage später auch noch Gold mit der US-Staffel über die 4x100 Meter abstaubt: geschenkt!

Bis heute haben Flo-Jos Weltrekorde Bestand. Genauso wie die Zweifel, die es an ihnen gibt. Denn bei den 100 Metern könnte nicht nur der Wind eine tragende Rolle gespielt haben: Florence Griffith-Joyner unterliegt jeher dem Verdacht, ihre Leistung mit Substanzen gesteigert zu haben.

Florence Griffith-Joyner: Viele Spekulationen, wenig Wahrheiten

Wer aber war die schillernde junge Frau, die bahnbrechende Erfolge auf der Tartanbahn feierte und mit 38 Jahren viel zu früh starb? "Die Frau ist deshalb so interessant, weil es so viele Spekulationen gibt und so wenig Wahrheit", fasst Karl Senne, ehemaliger ZDF-Sportchef, in der Doku "ZDF History - Junger Ruhm und früher Tod" zusammen.

Florence Griffith-Joyner wurde am 21. Dezember 1959 in Los Angeles geboren, wo sie mit ihren Eltern und zehn Geschwistern lebte. Nachdem sich ihre Eltern hatten scheiden lassen, fing sie 1966 mit dem Sport an. Als Teenager gewann sie die Jesse-Owens-Jugendspiele, machte schließlich ihren High-School-Abschluss, schrieb sich 1978 für ein Psychologiestudium an der California State University in Northridge ein und wurde Teil des Leichtathletik-Teams – geleitet von keinem Geringeren als Bob Kersee, der später die Siebenkampf- und Weitsprung-Olympiasiegerin Jackie Joyner-Kersee trainierte und heiratete.

Nachdem Flo-Jo das Studium aus finanziellen Gründen hatte abbrechen müssen, verhalf ihr Kersee zu einem Stipendium an der University of California, Los Angeles (UCLA). Dort war er mittlerweile als Assistenztrainer tätig und erinnerte sich offenbar an die talentierte Sportlerin. Im Jahr 1983 schloss Griffith ihr Psychologiestudium ab.

Nach und nach feierte Flo-Jo sportlich immer größere Erfolge. Sie qualifizierter sich für die Weltmeisterschaften 1983 in Helsinki und holte ein Jahr später Silber über die 200 Meter bei den Olympischen Sommerspielen in Los Angeles - wohlgemerkt ohne Teilnahme der Sowjetunion, die die Spiele boykottierte. 1987 heiratete sie Jackie Joyner-Kersees älteren Bruder und Dreisprung-Olympiasieger Al Joyner.

Florence Griffith-Joyner verbesserte ihre Bestzeit über die 100 Meter immer wieder, 1984 knackte sie erstmals die 11-Sekunden-Marke – das sind ihre Bestzeiten aus den Jahren vor dem Weltrekord:

  • 1983: 11,06 Sekunden
  • 1984: 10,99 Sekunden
  • 1985: 11,00 Sekunden
  • 1987: 10,96 Sekunden

Allerdings steigerten sich während dieser Zeit nicht nur ihre Bestzeiten, auch körperlich veränderte sich Flo-Jo. Sie entwickelte Muskeln, von denen einige männliche Leichtathleten wohl nur träumen konnten – und nährte damit Spekulationen, mit verbotenen Substanzen nachzuhelfen. "Wer sich so verändern kann, in so kurzer Zeit, nur vom Bild her, der muss den Verdacht gelten lassen, dass das nicht mit normalen Mitteln möglich ist – mit normalem Training", sagt Leichtathletik-Experte Senne.

Olympia 1988, Finale über die 100 Meter: Florence Griffith-Joyner sprintet allen davon - über ihren immensen Muskelaufbau wird später viel spekuliert. © imago images/PCN Photography/Steven E Sutton/DUOMO

Welche Rolle spielte der Wind beim Weltrekord über 100 Meter?

Als dann am 16. Juli 1988 der 100-Meter-Weltrekord krachend fiel, wurden aber nicht nur Doping-Vorwürfe laut – auch an der Wind-Messung gab es Zweifel. Weltrekorde sind nämlich nur gültig, wenn der Rückenwind nicht stärker als zwei Meter pro Sekunden bläst. Zwar betrug der Wind bei Flo-Jos Weltrekordlauf laut offizieller Messung exakt 0,0 m/s – doch es wird angenommen, dass diese Messung falsch war. Dafür gibt es mehrere Anhaltspunkte:

  • Auf Video-Aufnahmen des Laufs ist zu sehen, dass Fahnen, die am Stadion angebracht sind, kurz nach dem Zieleinlauf stark wehen.
  • Auch das Fähnchen eines Kampfrichters, der hinter den Startblöcken steht, bewegt sich rund um den Start deutlich im Wind.
  • In den Viertelfinals, die etwa eine halbe Stunde vor dem Weltrekordlauf stattgefunden haben, wurde Rückenwind mit einer Stärke von deutlich mehr als +3 m/s gemessen – und in dem Viertelfinale zehn Minuten nach Flo-Jos Lauf zeigte die Windmessung mehr als +5 m/s an.
  • Der Physiker Nicholas Linthorne kam 1994 in einem Bericht zu dem Schluss, dass der Wind in dem schicksalhaften Lauf bei +5,5 m/s gelegen haben muss. Geht es nach dem Wissenschaftler, hätte der Rekord niemals ratifiziert werden dürfen.
  • Peter Hürzeler, ehemaliger Entwicklungschef für Zeitmessung des Uhrenherstellers Omega, wird als Legende der Zeitmessung bezeichnet - und staunte ebenfalls, als Flo-Jo den Rekord knackte. "Ich sage Ihnen, ich war genauso überrascht, als ich 0,0 m/s auf der Anzeigetafel sah", erzählte er 2014 laut "Total Running Productions" in einem Interview mit "dailyrelay.com". "Ich war vor Ort und es war sehr windig an dem Tag. Manchmal kam der Wind von vorne, dann kam er von hinten, aus jeder Richtung. Es gab viele Turbulenzen." Zudem sei bei den Trials ein neues Mess-System im Einsatz gewesen.

Während heute nur noch wenige von den fragwürdigen Windbedingungen an diesem Tag wissen, besteht der hartnäckigste Zweifel nach wie vor an der "Sauberkeit" der Sportlerin. Anschuldigungen kamen unter anderem vom US-Sprinter Darrell Robinson. Er warf Flo-Jo im "Stern" vor, Steroide genommen zu haben und behauptete sogar, ihr wenige Monate vor ihren Weltrekorden Wachstumshormone (HGH) verkauft zu haben. Diese Anschuldigungen wies die Sportlerin vehement zurück und bezeichnete Robinson laut "Los Angeles Times" als "süchtigen, verrückten, lügenden Irren".

Tatsächlich wurde Griffith-Joyner während ihrer Karriere nie des Dopings überführt. Wohl auch deshalb, weil die Jagd auf Doping-Sünder zu dieser Zeit noch in den Kinderschuhen steckte. Und wohl auch deshalb, weil Flo-Jo nur wenige Monate nach ihren Weltrekorden völlig aus dem Nichts ihre Karriere beendete. Sie wolle mehr Zeit für ihre Familie haben, erklärte sie damals.

Auffällig ist jedoch, dass ihr Abschied zur selben Zeit kam, als deutlich verschärfte Dopingkontrollen eingeführt wurden: Die Anti-Doping-Agentur plante, ab 1989 Sportlerinnen und Sportler auch außerhalb der Wettkämpfe vermehrt zu testen.

Die große Sportbühne, sie sah Griffith-Joyner nie wieder.

Florence Griffith-Joyner, Günther Jauch
Florence Griffith-Joyner mit Günther Jauch. © imago images/teutopress/imago sportfotodienst

Flo-Jo stirbt mit nur 38 Jahren

Schließlich erschütterte am 21. September 1998 die Nachricht von ihrem Tod die Sport-Welt. Flo-Jo starb im Schlaf, offenbar in Folge eines schweren epileptischen Anfalls. Bis heute halten sich Spekulationen, die Sportlerin habe ihrem Körper mit verbotenen Substanzen schwer zugesetzt und der Anfall sei eine Folge davon gewesen. Doch die Obduktion ergab keinen Hinweis auf Doping-Missbrauch. Stattdessen entdeckte der Gerichtsmediziner eine angeborene Anomalie in ihrem Gehirn. Und die könnte den Anfall ausgelöst haben.

Nach ihrem Tod wurde es schnell still um die einstige Weltklasse-Sprinterin, selbst Medien hielten sich mit Recherchen zurück. "Man hätte viel am Lack gekratzt und ich denke, es hätte breite Kratzer gegeben. Ihr früher Tod hat sie davor bewahrt", sagt ZDF-Experte Senne.

Bis heute haben Flo-Jos Rekorde Bestand. Noch – denn mit Elaine Thompson-Herah (lief 2021 die 100 Meter in 10,54 Sekunden) und Shericka Jackson (lief 2023 die 200 Meter in 21,41 Sekunden) kamen ihnen zwei Jamaikanerinnen zuletzt gefährlich nahe. Aber auch wenn ihre Weltrekorde 35 Jahre später wackeln: Noch ist sie offiziell die schnellste Frau der Welt. Zur Legende wurde Florence Griffith-Joyner dennoch nie – denn außer Zweifel blieb am Wert ihres sportlichen Vermächtnisses nichts.

Verwendete Quellen:

  • bisp-surf.de (Bundesinstitut für Sportwissenschaft): How does wind influence sprint times? Was Flojo's 100 m world record wind assisted?
  • youtube.com: ZDF History - Junger Ruhm und früher Tod
  • youtube.com: The 100 Meter World Record: The Impossible Mystery Of Florence Griffith Joyner
  • latimes.com: Griffith-Joyner Calls Her Accuser a ‘Lunatic’
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