Das Obduktionsergebnis zum Tod von Michael Goolaerts bestätigt, dass der belgische Radprofi an den Folgen eines Herzinfarktes vor seinem Sturz starb und nicht durch den Sturz selbst. Dennoch hatte der Fall einmal mehr die Frage nach der Sicherheit im Profiradsport aufgeworfen. Wir haben mit Eurosport-Kommentator und Radsport-Experte Karsten Migels über dieses Thema gesprochen.

Ein Interview
von Florian Ullmann Michael Wollny

Herr Migels, Sie verfolgen den internationalen Radsport seit Jahren für Eurosport als Experte und Kommentator und haben zahlreiche schwere Stürze und auch Todesfälle miterlebt. Unabhängig von der Todesursache bei Michael Goolaerts: Was geht Ihnen durch den Kopf, wenn Sie solche Dramen live miterleben?

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Karsten Migels: Zuerst ist man einfach schockiert, da fehlen einem die Worte. Das ist leider nicht das erste Opfer, das ich persönlich miterlebt habe. Da gab es Situationen, da weiß man gar nicht, was man sagen soll, das ist einfach schrecklich.

Nun starb Goolaerts an den Folgen eines Herzinfarktes, dennoch bleibt die Frage nach der Sicherheit im Radsport weiter aktuell. Nach dem tödlichen Unfall des Kasachen Andrei Kivilev 2003 führte der internationale Radsportverband UCI die Helmpflicht ein. Ist darüber hinaus beim Thema Sicherheit wirklich genügend passiert?


Ich habe auch damals den schrecklichen Unfall von Kivilev mitbekommen, weil wir bei Paris – Nizza vor Ort waren. Das war genauso tragisch. Man muss natürlich sagen, dass das, was mit Goolaerts passiert ist und das, was mit Kivilev passiert ist, unterschiedliche Stürze waren und im Endeffekt unterschiedliche Todesursachen.

Kivilev war damals, als es noch keine Helmpflicht gab, auf den Kopf gefallen und aufgrund dieser schweren Kopfverletzungen verstorben. Bei Goolaerts war es so, dass er einen Herzstillstand hatte, durch den er zu Fall gekommen ist. Nichtsdestotrotz, schrecklich ist beides.

Getan wurde nach dem Tod von Kivilev einiges, vor allem, was die Helmpflicht betrifft. Es gab damals viele Diskussionen, viele Radsportler wollten keinen Helm tragen. Der Kompromiss war dann, dass man bei Bergankünften den Helm fünf Kilometer vor dem Ziel abnehmen durfte.

Bei der Helmpflicht hat man also sicherlich genug getan. Fakt bleibt einfach, dass der Radsportler nur eine relativ dünne Kleidung trägt, dann kommt der Helm dazu. Dass da natürlich Schürfwunden und Knochenbrüche nicht ganz auszuschließen sind, das gehört einfach zu unserem Sport dazu, so traurig sich das anhört.

Gerade das Rennen Paris-Roubaix lebt von Spektakel und Extremen und erinnert damit an Abfahrtsrennen im Ski-Sport, wo es immer wieder nach Sturz-Rennen Sicherheitsdebatten gibt, die auch aktiv von den Sportlern selbst angestoßen werden. Fehlt diese kritische Selbstreflexion im Radsport?

Nein, ich würde sagen, die Sicherheit ist vorhanden. Auch am letzten Sonntag waren die Ärzte innerhalb von wenigen Minuten vor Ort. Und gerade was die ASO betrifft (Amaury Sport Organisation, Anm. d. Red.), die Paris – Roubaix, die Tour de France oder auch die Deutschland-Tour im August organisiert, ist es hier sehr gut, was die medizinische Versorgung der Sportler betrifft.

Es sind unmittelbar Ärzte und Notärzte da. Da wird sicherlich genug getan. Es bleibt beim Radsport aber immer ein Restrisiko, das wird sich nicht ändern. Paris – Roubaix ist nicht gefährlicher als der Giro d’Italia, die Tour de France oder andere Straßenrennen.

Es kommt natürlich immer darauf an, wie diese Rennen gefahren werden. Es ist häufig so, dass heute im Vergleich zu vor zehn oder 20 Jahren etwas risikobereiter gefahren wird, dass in verschiedenen Rennsituationen einfach reingehalten wird, ohne Rücksicht auf Verluste.

Die Sportler sagen aber auch, dass Paris – Roubaix durch das viele Kopfsteinpflaster zu den härtesten Rennen im Kalender gehört.

Es ist ein besonderes Rennen. Es ist aber kein Rennen, bei dem mehr Stürze passieren, nur weil es da Kopfsteinpflaster gibt. Es hängt auch jeweils von der Situation ab, etwa, ob das Kopfsteinpflaster nass ist oder trocken. Am letzten Sonntag war es trocken, dann war es zeitweise wieder nass.

Man muss auch davon ausgehen, dass sich viele Sportler, die bei Paris – Roubaix an den Start gehen, auf dem Kopfsteinpflaster gut bis sehr gut bewegen können. Das hat man auch gerade in der Schlussphase am Sonntag gesehen, zwischen Silvan Dillier und Peter Sagen und die Gruppen dahinter mit Nils Politt – das sind schon Künstler auf dem Fahrrad.

Trotz Karbon und allem, was dazugehört: die beherrschen ihr Fahrrad. Deshalb würde ich nicht sagen, dass bei Paris – Roubaix mehr Stürze passieren als bei anderen Rennen.

Eine entschärfte Streckenführung mit weniger gefährlichen Abfahrten wäre das eine. Aber sollte nicht auch über Änderungen beim Material nachgedacht werden, wie es beispielsweise auch im Motor-Rennsport gemacht wird. Der gesunde Menschenverstand wundert sich ohnehin über hauchdünne Reifen bei Geschwindigkeiten von weit über 100 Km/h bei Abfahrten. Wäre die Überlegung zu breiteren Reifen im Radrennsport ein Tabu?

Ich glaube nicht, dass das was bringen würde. Breitere Reifen gibt es schon seit Jahrzehnten im Radsport. Am Sonntag haben die Sportler 28 bis 30 Millimeter breite Reifen gehabt, damit man einfach mehr Fahrkomfort hat. Sicherlich tragen die heutigen Karbon-Räder, die Laufräder, die Konstruktion der Rahmen dazu bei, dass die Geschwindigkeiten so extrem hoch sind – bis über 100 km/h. Gerade bei den schweren und langen Abfahrten in den Alpen oder Pyrenäen kommen solche Geschwindigkeiten häufiger vor.

Breitere Reifen würden aber auch nichts bringen. Die Radprofis sind Material- und zum Teil auch Gewichtsfetischisten. Es gibt diese Untergrenze, die bei 6,8 Kilogramm liegt. Und jeder Radprofi möchte dieses erlaubte Minimalgewicht auch erreichen. Alles, was darüber geht, wollen die Sportler nicht. Jede 100 bis 200 Gramm an der Maschine sind zu viel.

Ich selber fahre auch mit solchen Fahrrädern. Weil ich bereits seit meinem zwölften Lebensjahr mit Rennrädern unterwegs bin, weiß ich, wie man das Material einschätzen kann. Und deshalb sage ich, dass selbst eine Veränderung oder ein Verbot verschiedener Materialien oder breitere Reifen an dieser Tatsache nichts ändern würden.

Es gibt diese Situationen wie beispielsweise bei Mailand – San Remo und dem Sturz von Marc Cavendish. Die Fahrer kommen aus dem Kreisverkehr heraus, und dann ist da auf einmal dieses Hindernis mitten auf der Straße. Da muss der Veranstalter gewährleisten, dass auf den letzten 20 bis 30 Kilometern solche Hindernisse auf der Straße weggeräumt werden. Das finde ich extrem gefährlich und fahrlässig, wenn man das einfach da stehenlässt. Denn so passieren natürlich ganz böse Stürze.

Die Organisatoren – aber auch die Gemeinden - müssten im Rahmen der Streckenführung wie im Fall von Marc Cavendish oder auch bei den verschiedenen Arten der Zielankünfte für noch mehr Sicherheit sorgen. Für den regulären Auto-Straßenverkehr sind über die Jahre immer mehr geschwindigkeitsregulierende Maßnahme wie Straßen-Einbauten und -Verengungen getroffen worden. Und die sind natürlich bei Straßen-Radrennen extreme Hindernisse.

Wenn da ein Feld aus 150 Rennfahrern mit 50 km/h reinknallt, ist es wahrscheinlicher, dass nicht jeder rechtzeitig reagieren kann.

Schwere Stürze gibt es immer wieder auch bei Massensprints. Lässt sich diese Gefahr überhaupt entschärfen? Schließlich suchen die Sprinter ja gerade die Nähe, um Windschatten auszunutzen?

Diese Massenstürze lassen sich in der Tat kaum verhindern, weil es in der Natur des Sprints liegt, dass die Sprinter da reinhalten. Dass der eine oder andere hier ein höheres Risiko geht, ist klar. Dann knallt es irgendwann auch mal. Ein kleiner Fahrfehler, eine kleine Welle, dann passieren solche Stürze. Dessen sind sich die Sprinter aber selbst auch bewusst, sie leben mit diesem Risiko. Das gilt auch bei schnellen Abfahrten. Grundsätzlich muss man sagen, dass jeder Radrennfahrer das von Beginn seiner Karriere an weiß – egal ob Hobby- oder Profisportler.

Jeder schwere Sturz, jedes Todesdrama hinterlässt auch emotional seine Spuren. Gibt es ein Ereignis Im Radsport, das Sie von allen Tragödien am meisten getroffen hat?

Solche Stürze, wie die von Andrei Kivilev oder Wouter Weylandt, die ich leider live kommentieren musste, sind so grauenhafte Erlebnisse, die man niemandem wünscht. Da bekomme ich jetzt gerade wieder allein bei der Erinnerung daran Angstschweiß.

Karsten Migels kommentiert seit 1997 für den TV-Sender Eurosport die großen Radsport-Klassiker.
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