Boris Herrmann gehört zu den besten Soloseglern der Welt. Aktuell umsegelt er bei der Vendée Globe die Welt in rund 80 Tagen. Es ist sein Lebenstraum, den sich der 43-Jährige zum zweiten Mal erfüllt. Doch warum tut man sich Grenzerfahrungen, die eigentlich wenig bis keinen Spaß machen, überhaupt an?
Boris Herrmann hatte sich etwas fest vorgenommen: Das Ganze wird nicht noch einmal passieren. Zu heftig waren die Erfahrungen, zu sehr hatte ihm die Weltumseglung zugesetzt. Nach der Vendée Globe 2020/21 war daher klar, dass es kein zweites Mal geben soll.
"Bitte erinnert mich daran, das nie wieder zu machen", sagte er in der ARD-Doku "Segeln am Limit". Den Sieg hatte er kurz zuvor nur knapp verpasst, er wurde Fünfter, nachdem er gute 90 Seemeilen vor dem Ziel mit seiner "Seaexplorer" mit einem Fischerboot kollidierte.
Doch das Missgeschick hatte er damals bereits auf der anschließenden Pressekonferenz abgehakt. Die Grenzerfahrung bald darauf auch. Und vier Jahre später ist er tatsächlich wieder mittendrin im härtesten Segelrennen der Welt. Und wenn man ihn so reden hört von dem Trip ohne Zwischenstopp, in 80 Tagen um die Welt, dann fragt man sich: Warum? Das Verrückte daran: Diese Frage stellt sich Herrmann auch immer wieder.
Es ist ein Wechselbad der Gefühle, eine emotionale Achterbahnfahrt, die ihn begleitet, wenn er in seinem Hightechboot mit Segeln und den Foils, den gewaltigen Tragflächen, die das Schiff aus dem Wasser heben, sitzt.
Start der zehnten Ausgabe der seit 1989 existierenden Einhandregatta war am 10. November, und zwar in Les Sables d'Olonne, südlich von Nantes an der französischen Atlantikküste gelegen. 40 Starter, sechs Frauen, 34 Männer, machten sich auf den Weg, um 45.000 Kilometer bzw. 24.300 Seemeilen rund um den Erdball hinter sich zu bringen. Dabei umrunden sie die drei legendären Kaps, das Kap der Guten Hoffnung, Kap Leeuwin und schließlich Kap Hoorn, bevor sie nach Les Sables d'Olonne zurückkehren.
"Ich bin auf See der einzige Mensch auf Erden. Das ist ein Hochgefühl der Freiheit, der Weite, der tollen Farben", sagte Herrmann in der Doku. Doch es gibt auch Phasen, "in denen man einfach erschöpft ist und sich fragt: 'Warum bin ich schon wieder hier?'" Er sehnt sich nach Ruhe, doch das Boot fährt immer weiter. Und es ist ohrenbetäubend laut. "Einfach unmenschlich", sagt Herrmann, der sich in der Zeit von gefriergetrocknetem Essen ernährt.
Man kann sich als "Normalo" kaum in den 43-Jährigen hineinversetzen. Zweifel und Sorgen, sogar Angst sind ständige Begleiter. Er spürt, wenn Stürme kommen. Er ist stets auf der Hut, hört förmlich in das Boot hinein, wenn er es in den Grenzbereich bringt. "Man segelt auf einem schmalen Grat zwischen Risiko und Angriff, man fühlt mit dem Boot mit", sagte er.
Die Kunst auf See ist es, den richtigen Mittelweg zu finden. Und alles unter Kontrolle zu behalten, wenn es drunter und drüber geht. Auch wenn das in dem Chaos, das die Meere bereithalten, nicht immer möglich ist. Denn auf Herrmann warten Stürme, eisige Kälte und tropisch-heiße Windstille.
An Schlaf ist nicht zu denken
All das begleitet von Rahmenbedingungen, die Herrmann alles abverlangen. An Schlaf ist kaum zu denken, er ruht nie länger als 90 Minuten am Stück, oft viel kürzer. Man darf nie müde sein, ausgeschlafen ist man aber auch nicht, denn die Qualität des Schlafes ist schlecht, weil es laut und unruhig ist. "Der permanente Schlafmangel verstärkt den Stress und die Angst", erklärt Herrmann. Es ist ein Gefühlschaos, das man zulassen muss, wenn man in die entlegensten Regionen des Ozeans segelt.
Unterstützung von außen gibt es dort nämlich keine. Wenn etwas passiert, ist man auf sich gestellt. Todesfälle gehören zum "Everest der Meere", wie die Regatta unter Seglern auch heißt, ebenso dazu wie dramatische Rettungsaktionen. Weshalb Herrmann Ingenieur, Meteorloge, Handwerker, Steuermann, Taktiker und Trimmer sein muss.
Immer am Limit, sowohl körperlich als auch emotional, denn Herrmann ist während der Reise einsam. Und diese Einsamkeit ist nicht zu unterschätzen. Sie war das, was ihm beim ersten Mal am meisten zugesetzt hat. "Dieses Alleinsein macht mich mürbe", sagte er damals. Trotzdem weiß er: "Es ist eines der großen letzten Abenteuer, die es gibt". Der Höhepunkt der Hochseeregatten, und für Herrmann ein Lebenstraum.
Er habe das Bootsgefühl mit der Muttermilch eingetrichtert bekommen, erzählte seine Mutter in der Doku. Die Eltern trennten sich, als er zwei Jahre alt war, der Vater hatte das alleinige Sorgerecht. Dieser "klare Bruch" sei für ihr Kind "zwischendurch nicht einfach" gewesen, räumt die Mutter ein. Für den Vater war die Zeit mit seinem Sohn hingegen "ein Hauptgewinn".
Am Anfang war eine Jolle
Mit fünf oder sechs Jahren saß Herrmann erstmals in seinem eigenen Boot, einer kleinen Jolle. Der Vater ließ ihm viel Freiraum, und der Steuermann in Herrmann setzte sich schnell durch. Als sich der Vater bei einer Bootstour nur kurz schlafen legen wollte und wegnickte, übernahm Herrmann wie selbstverständlich das Kommando. Und ging in der Aufgabe auf.
Der Stolz ist dem Vater noch heute anzusehen. "Er hat sich immer mehr bewährt, als ich geglaubt habe, dass es möglich ist", sagte er. "Er ist jemand, der sehr klar auf seine Ziele hinarbeitet und bereit ist, dafür sehr viel zu geben und auf sehr viel zu verzichten", sagte Julien Kleiner, der beste Freund Herrmanns.
Erste Weltumseglung 2008/2009
Die Segel-Karriere treibt er dementsprechend schnell voran. 2001, nach seinem Zivildienst, nahm Herrmann an dem Atlantik-Rennen "Mini-Transat" teil. 2002 erlebte er seinen persönlichen "Wow-Moment", als die "Illbruck" als erste deutsche Yacht das Ocean Race gewann. Beim umjubelten Einlauf in die Kieler Förde war er hautnah dabei – und endgültig hin und weg.
Die erste Weltumseglung absolvierte er 2008/2009, die Vendée Globe 2024 wäre seine insgesamt sechste. Es ist nicht nur eine große Abenteuerlust, die Welt zu umsegeln, es ist eine Art Sucht. "Das zu erfahren, wie viele Ressourcen in einem sind, was man aktivieren kann an Durchhaltevermögen und Stärke – da fühlt man sich ganz lebendig und das ist eine extreme Erfahrung", sagte er.
Herrmann ist aber nicht nur Segler, sondern auch studierter Ökonom mit dem Schwerpunkt Nachhaltigkeit. 2016 gründete er mit Pierre Casiraghi, dem Sohn von Prinzessin Caroline von Monaco, das Rennteam "Malizia", das sich auch auf gesellschaftliche Ziele, Forschung, Umweltschutz und Jugendarbeit fokussiert. 2018 hat er mit seiner Frau Birte Lorenzen-Herrmann eine Schulbildungskampagne "My Ocean Challenge" ins Leben gerufen.
Auch der Klimawandel spielt eine Rolle
Denn der Ozean spielt eine große Rolle beim Klimawandel, und diese Zusammenhänge will er Kindern erklären. Das Motto: "A Race we must win." Die Wissenschaft unterstützt Herrmann während seiner Zeit auf dem Wasser, indem er dank eines Messgeräts wertvolle Informationen zum CO2-Gehalt, zur Temperatur und zum Salzgehalt des Wassers sammelt. Er will dabei helfen, den Klimawandel zu verlangsamen.
Passend dazu brachte er 2019 die Klimaaktivistin Greta Thunberg medienwirksam auf der Yacht Malizia II von Plymouth nach New York City, wo sie am Klimagipfel der Vereinten Nationen teilnahm. In diesem Jahr wurde er für seine Aktivitäten mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet.
"Boris kann nicht stillsitzen und sagen: 'Ich bin fertig'", sagte seine Frau, mit der er eine vierjährige Tochter hat. Es muss weitergehen, weil für ihn die nächste Herausforderung schon wartet. Deshalb wagt er entgegen seiner ersten Reaktion vor rund vier Jahren 2024/25 einen erneuten Anlauf und legt sich wieder mit den Weltmeeren an.
Dafür setzte er technisch alles auf eine Karte, als er der "Malizia-Seaexplorer" ein neues Design verpasste, das Boot neu entwickelte. Es sollte durch Wellen fahren, ohne ständig unterzutauchen, weshalb es einen breiten Bug und einen klobigen Rumpf bekam. Das gab es vorher noch nicht, und das Projekt war deshalb mit einer gehörigen Portion Unsicherheit verbunden, denn Herrmann ging ins Risiko. Seine Karriere hinge davon ab, sagte er. Sechs Millionen Euro wurden in die Yacht investiert.
Als sich Angst breit machte
Und als die erste Regatta nach der Fertigstellung 2022 in die Hose ging, machte sich Angst breit, der Druck stieg. Herrmann stellte alles infrage. Kritik gab es, Skepsis an dem Bau, an dem 250 Menschen beteiligt waren, ebenfalls. Doch beim Ocean Race 2023 folgte die Erlösung und mit zwei Etappensiegen, Gesamtplatz drei und einem Weltrekord der Durchbruch. "Das Konzept ist aufgegangen. Das hat mein Leben verändert", sagte er.
Wie auch die Vendée Globe ihn verändert hat. Bei seinem ersten Mal wurde er zum Medienstar, als er mithilfe modernster Kommunikation seine Erlebnisse teilte, als Isolierter in der Isolationszeit Corona die Menschen bewegte. Seine Fans saugten es förmlich auf, wie er litt, kämpfte, sich freute, die Herausforderungen überwand. "Die eigenen Schwächen sind die größten Herausforderungen", sagte er. Wie seine Höhenangst zum Beispiel. In den Mast kletterte er trotzdem, und wurde dabei dann auch noch seekrank.
Warum das alles?
Was automatisch wieder zur "Warum"-Frage führt. Eine komplett befriedigende Antwort gibt es darauf wohl nicht. Dem "Tagesspiegel" sagte Herrmann, es sei "verrückt, dass ich so viel Energie in etwas stecke, bei dem ich mich dann so unwohl fühle. Ich kann es mir nicht erklären".
In der ARD-Doku beschreibt Herrmann die Vendée Globe als "ein Virus", der in ihn eingedrungen sei und ihn nicht mehr loslasse. "Das hinterlässt Spuren, gute wie negative. Das hinterlässt auch Kratzspuren auf der Seele", so Herrmann. "Trotzdem spüre ich die Aufregung, ich spüre das Kribbeln. Es spielen so viele Glücksfaktoren eine Rolle. Und das braucht man für 80 Tage am Stück."
Die schnellsten Boote werden Mitte Januar in Les Sables d'Olonne erwartet. Herrmann gehört zum Favoritenkreis. Doch egal wie das Rennen ausgeht: Ein Gewinner ist er so oder so.
Verwendete Quellen
- ardmediathek.de: Boris Herrmann - Segeln am Limit
- tagesspiegel.de: In der Trauma-Maschine: Weltumsegler Boris Herrmann – Porträt eines Rastlosen
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