• Linn Kazmaier hat als zweitjüngste Teilnehmerin der Paralympics mit einem Gold und insgesamt fünf Medaillen fast schon unglaubliche Erfolge gefeiert.
  • Wie hat die 15-Jährige, deren Sehvermögen nur rund vier Prozent beträgt, das geschafft?

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Katarina Witts Tränen, der Wutausbruch, die Ohnmacht über den Umgang mit Kamila Walijewa: Auch das war ein Bild der Olympischen Spiele von Peking. Und es befeuerte zumindest für ein paar Tage auch in Deutschland die Debatte um eine Altersgrenze für olympische Athleten bei den Spielen.

Die öffentliche Demütigung einer 15-Jährigen sorgte für reichlich Gesprächsstoff, weil das Erlebte für eine so junge Sportlerin - die Dopingvorwürfe, der öffentliche Druck, das empathiefreie Verhalten ihrer Trainerin Eteri Tutberidse - keine gute Basis ist für die weitere Karriere. Und natürlich auch nicht für den Menschen hinter der Sportlerin.

Nun sind die Berichterstattung und die öffentliche Wahrnehmung der Paralympischen Spiele ganz anders, aber wenn eine 15-Jährige fünf Medaillen einsammelt und sich zur Paralympicssiegerin kürt, ist das eine kleine Sensation. Umso erstaunlicher, dass Linn Kazmaier ganz offen über den Sinn und Unsinn der fehlenden Altersbeschränkungen auch bei den Athleten mit Behinderungen nachdenkt.

"Es war schon ziemlich verrückt, was alles auf mich zukam, gerade nach der ersten Medaille", sagte Kazmaier am Samstag nach ihrem Triumph auf der Langlauf-Mittelstrecke. "Tage, an denen man eine Medaille gewinnt, sind schon stressig. Deswegen könnte ich schon verstehen, wenn das Alter hoch gesetzt würde. Aber für mich wäre das natürlich doof gewesen."

Linn Kazmaier: Fünf Medaillen, ein Paralympicssieg

Das kann man so sagen nach zweimal Biathlon-Silber, je einer Silber- und einer Bronzemedaille im Langlauf und dann eben dem Paralympicssieg zusammen mit ihrem Guide Florian Baumann über die Mitteldistanz über 7,5 km. Dem Teenager könnten die Diskussionen egal sein und Einlassungen über sportpolitische Erwägungen sind von einer 15-Jährigen auch gar nicht zu erwarten. Aber Kazmaier zeigt eben nicht nur in der Loipe eine bemerkenswerte Reife.

Es sei auch kein Beinbruch gewesen, hätte sie am Samstag nach vier zweiten und dritten Plätzen den Sieg nicht eingefahren. "Ich habe ja noch so viel Zeit", sagte Kazmaier. Nimmt man die überragende Langläuferin der Olympischen Spiele als Beispiel, könnte Kazmaier noch viermal an den Paralympics teilnehmen und auf Medaillenjagd gehen. Die Norwegerin Therese Johaug jedenfalls holte mit 33 Jahren vor ein paar Wochen dreimal olympisches Gold.

Nur rund vier Prozent Sehstärke

Linn Kazmaier kam "erst" mit acht Jahren zum Langlauf und Biathlon, in der Skizunft Römerstein im Kreis Reutlingen lernte sie das Leben auf den schmalen Brettern. Nach einem halben Jahr stellten sich schon erste Erfolge ein, Mutter Gabi forcierte dann die Entwicklung und Förderung ihrer Tochter, organisierte auf eigene Faust inklusive Veranstaltungen und Fördertage.

Kazmaier hat einen sogenannten Nystagmus, umgangssprachlich auch Augenzittern genannt. Beide Augen zittern oder zucken dabei unkontrolliert und beschreiben Schlagbewegungen des Auges. In der Medizin wird das Krankheitsbild auch dem Bereich der Zapfendystrophie zugewiesen, bei der die Sehschärfenminderung durch den Ausfall der bei gesunden Menschen hoch entwickelten Sehzellen, den Zapfen, ausgelöst wird.

"Ich sehe verschwommen und ein wackelndes Bild, weil ich einen Nystagmus habe, da wackeln die Augen. Ich seh' halt alles so ein bisschen, wie wenn man falsch herum durch eine Lupe guckt, da sieht man alles ganz klein", beschreibt sie selbst ihre gravierende Beeinträchtigung. Kazmaiers Sehvermögen wird auf nur rund vier Prozent geschätzt.

Leistungsexplosion bei den Paralympics von Kazmaier

Trotz dieses Handicaps hat Kazmaier ein Faible für schnellen Sport. Und wie viele ihrer Kolleginnen auch schnell die Liebe über den Langlauf hinaus entdeckt: mit der Verbindung von Laufen und Schießen beim Biathlon. Fast ohne visuelles Sinnesorgan haben sich ihre anderen Sinne auf einem deutlich höheren Niveau ausgebildet. Allen voran der Hörsinn. In der Loipe reagiert Kazmaier auf die Kommandos ihres Guides und alles andere, was drumherum so passiert. Im konkreten Biathlon-Beispiel löst ein akustisches Signal am Laser-Gewehr den Punkt für den Abzug aus.

Die Gewehre liegen dabei am Schießstand aus, den "blinden" Schuss geben die Athleten dann je nach übermittelter Tonhöhe ab: Je höher der empfangene Ton, desto näher ist der Anschlag auf die Scheibenmitte ausgerichtet. Das nach so kurzer Zeit und in so jungen Jahren auf diesem Niveau in der Weltspitze beim größten Sportereignis überhaupt dann auch abzurufen, ist beinahe unglaublich. Im Biathlon jedenfalls hatte Kazmaier vor ihren Medaillen bei den Paralympics noch keine Top-Platzierungen vorzuweisen, bei der Para-WM wurde sie zuletzt Sechste und Neunte.

Kazmaier hat sich in den Tagen von Peking in einen regelrechten Rausch gelaufen und geschossen und sich in dem Bereich rasend schnell entwickelt, der für sie am wichtigsten ist: das Vertrauen in die eigenen Stärken und ihre Begleitperson(en).

"Total krass und ziemlich unwirklich" sei das alles gewesen, sagte Linn Kazmaier am Tag des größten Triumphs ihrer noch sehr jungen Karriere. Am Sonntag, bei ihrem letzten Rennen der Spiele in der Loipe, nahm die 15-Jährige dann auch noch an der Offenen Staffel über 4x2,5 Kilometer teil. Das deutsche Quartett belegte Platz acht. Aber vielleicht ist das für die zweitjüngste Teilnehmerin überhaupt im Ausblick auf die nächsten Paralympics ja auch ein zusätzlicher Ansporn.

Verwendete Quellen:

  • Sportschau.de: Mindestalter bei Paralympics? 15-jährige Kazmaier hätte Verständnis
  • SWR.de: Goldene Krönung für Paralympics-Überraschung Linn Kazmaier
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