Zu klein, viel zu groß, mit Kurven und ein paar Jahre älter: Bei "Germany's Next Topmodel" werden seit einigen Jahren Nachwuchsmodels aus allen Lebenswirklichkeiten gesucht. Heidi Klum hat sich Diversität auf die Castingfahne geschrieben und hält diese unermüdlich hoch. Dass das aber mit der Realität im Modelbusiness wenig bis gar nichts zu tun hat, unterstreicht Modelagent Marco Sinervo im Gespräch mit unserer Redaktion.
Die Kritik an "Germany's Next Topmodel" ist beinahe so alt wie die Show selbst. Aktuell sucht
Einer, der sich vehement gegen den Eindruck wehrt, jede Teilnehmerin könnte hinterher im Modelbusiness erfolgreich sein, ist Marco Sinervo. Der 46-Jährige ist Gründer und Geschäftsführer von MGM Models, einer der größten Modelagenturen Europas. Bereits im vergangenen Jahr sagte er im Gespräch mit unserer Redaktion, dass GNTM eine "rein kommerzielle Shitshow" sei, "konzipiert als Geldmaschine für Heidi Klum". Ein Jahr später haben wir erneut bei ihm nachgefragt.
Herr Sinervo, wenn Sie heute Heidi Klum treffen würden, was würden Sie ihr sagen?
Marco Sinervo: Ich würde ihr sagen, dass sie mit ihrer Show aufhören soll. Dass sie damit aufhören soll, Menschen im Fernsehen zu zerreißen. Sie soll ihrem Entertainment-Format einen anderen Namen geben und nicht mehr mit den Träumen von Menschen spielen.
Welcher Name wäre passender?
Das ist eine gute Frage. Aber mit "Next Topmodel" hat es auf jeden Fall nichts mehr zu tun.
Die massive Kritik an GNTM reißt nicht ab. Warum gehen immer noch jedes Jahr so viele Mädchen dorthin?
Es ist blanke Naivität. Sie denken, sie könnten es als Model schaffen. Natürlich sind es jedes Jahr auch neue Kandidatinnen, die den Wunsch haben, über dieses Format als Topmodel rauszukommen - der Wunsch ist so stark, dass viele die Realität ausblenden.
Und warum schalten weiterhin jedes Jahr so viele Zuschauerinnen und Zuschauer ein?
Weil GNTM spannend ist, pures Entertainment, leichte Unterhaltung. Voyeurismus, das mögen Menschen einfach gerne - vor allem dann, wenn es um Umstyling und Misserfolge geht. Man sitzt bequem zu Hause und guckt zu, wie sich andere Menschen blamieren und findet das insgeheim lustig und interessant. Ein bisschen so wie früher auf dem Jahrmarkt, wenn ein Einäugiger gezeigt wurde und man sich gedacht hat: "Och, Mensch, da schau' ich mal hin" - man will Menschen in Extremsituationen sehen.
Eine reine Zurschaustellung?
Reine Zurschaustellung, genau. Mehr ist GNTM nicht.
Dieses Zurschaustellen haben Sie auch in Ihrem Buch "Fame vs. Fake" vor knapp einem Jahr sehr stark kritisiert. Würden Sie Ihr Buch immer noch so schreiben?
Ja, denn GNTM koppelt sich immer weiter ab von der Realität und spiegelt überhaupt nicht mehr das wider, was meine Branche braucht und was meine Kunden wollen. Die großen Designer-Brands suchen nach Models fernab von dem, was bei GNTM für Typen gezeigt werden. Deswegen haben die Kandidatinnen überhaupt keine Chance, als Model zu arbeiten. Das betrifft nicht nur Plus-Size-Models, sondern etwa auch die großen Kandidatinnen: Man kann mit 1,93 nicht über einen Laufsteg gehen. Dafür ist kein Platz und sowas wird auch nicht gebucht.
Marco Sinervo: "Diversity-Trend zwar intensive, aber nur kurzweilige Zeiterscheinung"
Wie sieht es mit Size Zero aus? Überall liest man, das ist wieder in, die 90er sind zurück und mit ihnen auch der Heroin Chic.
Es geht gar nicht um Size Zero. In Deutschland sind auch Konfektionsgröße 36 oder 38 in Ordnung. Aber der Trend ist vorbei, dass man gesagt hat, es gebe für Models mit Größe 44, 46 oder 48 einen relevanten Markt beziehungsweise, dass das alte Schönheitsideal überholt sei und Models heute alle Größen tragen können. Auf den großen Fashion Weeks in Paris, Mailand und New York sind die letzten beiden Saisons kaum noch Models mit größeren Größen mitgelaufen und man ist wieder fast vollständig zu dem alten Schönheitsideal, also Konfektion 34 bis 36, zurückgekehrt. Dass der Diversity-Trend zwar eine intensive, aber eben nur eine kurzweilige Zeiterscheinung war, habe ich schon vor Jahren in meinem Buch geschrieben. Wir müssen uns hier ehrlich machen, schauen, was der Markt wirklich möchte und den Menschen keine falschen Illusionen und Hoffnungen vermitteln.
Wird auch bei GNTM Diversity-Washing betrieben?
Ja, und das verstehe ich nicht. Was soll das? GNTM bekommt die Kandidatinnen nicht mehr, die die Show eigentlich für internationale Modelkarrieren bräuchte. Und macht die Teilnahme stattdessen für noch mehr Menschen zugänglich - alt und Plus Size und groß und zu groß und zu klein, jeder kann mitmachen. Aber wenn die Kandidatinnen hinterher nicht als Model arbeiten, verstehe ich den Sinn nicht. Letztes Jahr war eine Kandidatin dabei, die sich massiv als Model beworben hat und sogar gemeinsam mit ihrer Tochter aufgetreten ist. Die wollen das unbedingt, aber es funktioniert einfach nicht.
Sie meinen Martina und ihre Tochter Lou-Anne, die am Ende sogar gewonnen hat.
Sie ist kein Model. Also weder Mutter noch Tochter. Und auch alle anderen Kandidatinnen sind keine Models. Das ist schade, beginnt aber schon mit der falschen Auswahl der GNTM-Kandidatinnen. Da geht es nur darum: Wer ist entertainig? Wer ist telegen? Welcher Kandidatin schaut man gerne zu, weil sie vielleicht ein bisschen aus der Reihe tanzt? Es sind auch extreme Typen dabei, die in Richtung Dschungelcamp gehen. Das ist spannend, das ist Entertainment. Kompetenz als Model haben die aber alle nicht - auch in der aktuellen Staffel nicht.
Haben Sie die aktuelle Staffel schon gesehen?
Ja, ich muss das natürlich gesehen haben, wenn ich darüber sprechen möchte. Diese völlig absurde Nacktszene fand ich auch wieder total daneben. Das macht man nicht, das würden wir nie zulassen …
Sie meinen das Sedcard-Shooting?
Genau, da musste wieder Nacktsein gezeigt werden, die Kandidatinnen mussten sich völlig entblößen. Das ist alles so unangenehm! Wir arbeiten in meiner Agentur mit 60 bis 70 festangestellten Mitarbeitern, machen das ganz seriös und sauber - und diese Frau zieht das alles durch den Kakao! Es ist schrecklich für mich, das ertragen zu müssen, das tut mir richtig weh. Wenn junge Mädchen mit ihren Eltern zu uns kommen, um sich vorzustellen, haben sie absurde Fragen: "Muss ich mich auch ausziehen?" Wir müssen sie dann erstmal in die Realität holen und ihnen erklären, wie das wirklich funktioniert - und dass das natürlich Quatsch ist.
Was raten Sie diesen Mädchen, wenn sie bei GNTM mitmachen wollen?
Auf gar keinen Fall machen! Wir haben das bei Simone Kowalski schon erlebt (Kowalski hat 2019 GNTM gewonnen; Anm.d.Red.), die zuerst auch bei uns in der Agentur war und sich durch diese Show komplett zerstört hat. Es ist absolut nicht förderlich, an GNTM teilzunehmen und man darf das auf gar keinen Fall machen!
Ist bei den aktuellen Kandidatinnen eine dabei, die in Ihren Augen Modelpotenzial hat?
Nein, nee, überhaupt nicht!
Modelagent: "Leni Klum ist kein Model"
Möchten Sie dennoch einen Tipp abgeben, wer gewinnen könnte?
Das kann ich nicht entscheiden, weil die Auswahl nicht unter professionellen Gesichtspunkten getroffen wird. Da wird danach entschieden, wer Zuschauerliebling ist oder wer gut für die Quote ist. Es hat auch mit der "schauspielerischen Leistung" der Kandidatinnen zu tun und weniger mit dem Modeln.
Genau gleich. Leni Klum ist überhaupt kein Model, sie ist klein und kein Modeltyp. Natürlich versuchen Firmen, sich über das Format GNTM zu platzieren - aktuell etwa Intimissimi. Die stecken ein wahnsinniges Werbebudget rein, um ihre Zielgruppe anzusprechen. Und dann wird in den Deals schon festgelegt, dass Kandidatinnen oder Leni als Models genutzt werden - oder man auch noch den Fame der Mutter mit abgreifen möchte. Das würde sonst kein Mensch machen, wenn Leni und Heidi Klum nicht diesen Fame bei den Zuschauern hätten.
Für die Intimissimi-Werbung gab es Kritik, weil Mutter und Tochter dort gemeinsam in Unterwäsche zu sehen sind. Können Sie das nachvollziehen?
Ich fand die Werbung nicht gut und kann das auch nicht mehr sehen. Es wäre etwas anderes, wenn Cindy Crawford und Kaia Gerber zusammen Werbung machen würden. Denn da ist die Tochter ein sehr erfolgreiches Model - unabhängig von der Mutter. Heidi Klum ist eine kluge Geschäftsfrau, die versucht, sich selbst unterzubringen. Ich frage mich immer nur, wann der Punkt kommt, zu sagen, dass es langsam langweilig wird. Schon jetzt merkt man eine gewisse Ermüdung bei den Zuschauern, sie finden nicht mehr alles gut. Aber es fehlt an neuen Formaten, an neuen Akteuren. Sie besetzt dieses Thema allgegenwärtig, ist omnipräsent und verfolgt eine clevere Marketingstrategie. Ich finde, sie ist auserzählt und es wäre schön, wenn irgendwann mal was Neues passiert.
Die Mutter-Tochter-Auftritte sind demnach auch nichts anderes als eine Marketingstrategie?
Total! Die Tochter reitet ja auf der Welle mit, dass sie eine so bekannte Mutter hat. Sonst würde sich kein Mensch für sie interessieren. Ich würde sie als Model überhaupt nicht in Betracht ziehen.
Heidi Klum "ist wie Dieter Bohlen bei DSDS, der auch nicht aufhören kann"
Es gibt ja immer wieder die Gerüchte, dass Heidi Klum GNTM irgendwann an Leni abgeben wird. Glauben Sie, dass die Sendung dann immer noch erfolgreich wäre?
Gute Frage, ich hoffe nicht, dass sie das tut. Aber wahrscheinlich ist es geplant, den Stab in der eigenen Familie weiterzugeben, damit das Geld im Haus bleibt. Die Frau kann halt auch nicht loslassen. Sie ist wie Dieter Bohlen bei DSDS, der auch nicht aufhören kann.
GNTM läuft seit 17 Jahren, aktuell ist die 18. Staffel zu sehen. Dass das so lange läuft, war anfangs nicht abzusehen.
Überhaupt nicht, das ist völlig verrückt. Anfangs war das Niveau bei den Kandidatinnen noch höher, die haben Influencer-mäßig etwas erreicht, auch mal Modeljobs gemacht oder als Fernsehmoderatorinnen gearbeitet. Heute ist das Niveau völlig am Boden. Viele Zuschauer nehmen das auch nicht mehr ernst, sondern sehen GNTM als Trash-Entertainment-Format, das der reinen Unterhaltung dient und schon in Richtung Dschungelcamp geht.
Haben Sie Heidi Klum mal persönlich getroffen?
Mehrmals, ja.
Haben Sie ihr gesagt, was Sie von GNTM halten?
Nein, das war noch zu Beginn von GNTM, als ich noch dachte, dass das ein positives Format werden könnte. Wenn ich sie heute treffen würde, würde ich ihr sagen, was ich davon halte, dass sie mit den Wünschen von jungen Menschen so spielt. Das finde ich wirklich, wirklich schade, es tut mir fast ein bisschen weh.
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