Im Wochenrhythmus sprechen vor allem CSU-Politiker vom Erreichen der "Belastungsgrenze" in der Flüchtlingsfrage - der Faktencheck zeigt jedoch, Deutschland hat seine Kapazitäten noch lange nicht ausgeschöpft.

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In der vergangenen Woche forderte CSU-Generalsekretär Andreas Scheuer mal wieder eine weitere Verschärfung des Asylrechts. Der Familiennachzug von Flüchtlingen müsse ausgesetzt oder begrenzt werden, sagte er in Hamburg beim Deutschlandtag der Jungen Union. "Wir sind über der Belastungsgrenze", erklärte Scheuer. Da war es wieder, das Reden von der "Belastungsgrenze".

Bereits seit Wochen und Monaten ist vor allem von der bayrischen CSU, aber auch aus Teilen der CDU immer wieder das Wort von der erreichten oder gar überschrittenen "Belastungsgrenze" zu hören. Aber was bedeutet dieser inflationär gebrauchte Begriff eigentlich? Was wäre für Deutschland wirklich eine "Belastungsgrenze"?

Schon die Naturwissenschaftlerin und Bundeskanzlerin Angela Merkel hat in der TV-Sendung "Anne Will" betont, dass es in Bezug auf die Flüchtlingszahlen wichtig sei, diese im Verhältnis zu der Einwohnerzahl eines Landes zu betrachten. Dann werde schnell deutlich, dass andere EU-Länder wie zum Beispiel Schweden oder Österreich noch mehr leisten würden als Deutschland, sagte Merkel.

Für die Frage nach einer möglichen Belastungsgrenze bedeutet das, dass diese theoretisch für jedes Land woanders liegt. Und Deutschland, als das EU-Mitglied mit den meisten Einwohnern, muss logischerweise besonders viele Menschen in absoluten Zahlen aufnehmen, um einen ähnlichen Quotienten von Flüchtlingen pro Einwohner zu erreichen, wie zum Beispiel das kleine Schweden.

Der Blick auf Schweden lässt das bayrische Fabulieren von der erreichten Belastungsgrenze in einem anderen Licht erscheinen. Das skandinavische Land hat nur knapp 9,6 Millionen Einwohner. In diesem Jahr erwartet die schwedische Regierung nach einem Bericht der Deutschen Presse-Agentur circa 190.000 Asylbewerber. Das heißt, auf 50 Schweden käme ein Zuwanderer.

Ernüchternder Vergleich

Der Vergleich mit Deutschland ist ernüchternd. Laut einer offiziellen Prognose der Bundesregierung vom August werden hier in diesem Jahr insgesamt rund 800.000 Asylbewerber erwartet. Das hieße, dass auf mehr als 100 Einwohner lediglich ein einziger Schutz suchender Mensch käme. Mittlerweile wird davon ausgegangen, dass sich die Zahl der Asylsuchenden in Deutschland um die eine Million bewegen könnte - Spekulation von 1,5 Millionen Asylsuchenden wurden bereits wieder dementiert. Doch selbst bei der Million wäre eine Belastungsgrenze noch lange nicht erreicht und Schweden pro Kopf immer noch aufnahmebereiter als Deutschland.

Hinzu kommt, dass nur ein Teil der flüchtenden Menschen überhaupt in Deutschland bleiben wird, der Bund rechnet in seiner aktuellen Prognose mit etwa 40 Prozent - von denen viele als gut ausgebildete Fachkräfte in der deutschen Wirtschaft sehr willkommen sind. Die restlichen Asylbewerber müssen, wenn ihre Anträge abgelehnt werden, das Land wieder verlassen. Ist vor diesem Hintergrund also die Belastungsgrenze tatsächlich schon erreicht - oder gar überschritten?

Richtig ist, dass das Beispiel des liberalen Schweden zeigt, dass keine Gesellschaft beliebig viele Zuwanderer problemlos integrieren kann. Angesichts der neuen, pro Einwohner doppelt so hohen Zahlen wie in Deutschland, spricht der Leiter der schwedischen Migrationsbehörde Anders Danielsson am Donnerstag von einer beispiellosen Situation - und warnt vor praktischen Problemen bei der Unterbringung. Zum Jahresende könnten bis zu 45.000 Schlafplätze fehlen. Eine Belastungsgrenze würde in diesem Fall bedeuten, dass der Staat nicht mehr in der Lage wäre, die menschenwürdige Versorgung der Schutzsuchenden zu garantieren.

Staat hat zu spät reagiert

In Deutschland kann davon jedoch bisher keine Rede sein. Experten gehen davon aus, dass die Probleme bei der Unterbringung viel mehr daraus resultieren, dass der Staat zu spät auf die steigenden Flüchtlingszahlen reagiert hat. "Die Unterbringung von Flüchtlingen ist keine Platzfrage, sondern eine Frage der Organisation und des guten Willens", sagte ein Sprecher der Organisation Pro Asyl im Gespräch mit unserer Redaktion. Dass es derzeit zu wenige Unterkünfte gibt, liege auch daran, dass bei sinkenden Flüchtlingszahlen in der Vergangenheit vielerorts Unterkünfte dichtgemacht und Strukturen abgebaut wurden.

"Die Verwaltungen haben zu spät reagiert, als absehbar wurde, dass wieder mehr Menschen kommen würden", erzählt uns der Sprecher. "Der Krieg in Syrien tobt bereits seit 2011. Millionen Menschen sind seit Jahren auf der Flucht". Es sei absehbar gewesen, dass Europa sich auf Dauer nicht von der Flüchtlingskrise würde abschotten können. Deshalb und nicht aufgrund des Erreichens irgendeiner Belastungsgrenze stünde die Politik jetzt vor großen Herausforderungen. "Wir brauchen nicht nur Unterkünfte, sondern auch Wohnungen. Wir brauchen Asylentscheider, Lehrer, Berater und Projekte der Arbeitsmarktintegration". All dies werde Zeit in Anspruch nehmen, "aber es ist zu schaffen, wenn alle guten Willens sind".

Das Gerede von der erreichten oder überschrittenen Belastungsgrenze erscheint vor diesem Hintergrund irreführend und kontraproduktiv. Es ist der durchschaubare Versuche von Politikern, ein psychologisch erklärbares, diffuses Angstgefühl in der Bevölkerung in Zustimmung für die eigene Partei umzuwandeln. Von der Realität gedeckt ist es dagegen nicht. Wenn Deutschland eine Belastungsgrenze hat, dann ist sie nach Meinung vieler Experten noch lange nicht erreicht.

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