Unter dem Motto "Die Show der Legenden" sammelte Carmen Nebel gestern Abend Geld für die Deutsche Krebshilfe. Für die gute Sache kamen über drei Millionen Euro zusammen, für den guten Zuschauer war die Show eine Zeitreise in die guten alten Zeiten der öffentlich-rechtlichen Samstagabendunterhaltung.

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Es sind bereits die ersten Minuten der Show, die den Zuschauer in eine scheinbar längst vergangene Zeit deutscher Samstagabendunterhaltung versetzten. André Rieu fiedelt zur Eröffnung, Carmen Nebel begrüßt die Zuschauer in einem perfekt sitzenden weißen Glitzerhosenanzug, Al Bano und Romina Power singen ein Hit-Medley und mit den witzig gemeinten Worten "Spaß haben wir immer, wenn uns dieser junge Mann in unserer Show besuchen kommt" kündigt Carmen Nebel den 54-jährigen Andy Borg an. Der kommt herein, man tauscht Belanglosigkeiten aus, dann steigt der Borg auf die Bühne und singt zu Nebelmaschinenschwaden seinen 1982er Hit "Adios Amor".

Mehr Schnittchen, Mutti!

Wäre zwischendrin nicht die Schweizerin Beatrice Egli aufgetreten, man hätte gut und gerne glauben können, man befände sich irgendwann in der Kohlschen Bundesrepublik, als die Samstagabendshow noch nichts von ihrem schleichenden Ende ahnte. Als sich die Familie sonnabendlich vor der Flimmerkiste versammelte und man sich mit der Zunge die Salzstangenreste aus den Backenzähnen puhlte, während Mutti neue Schnittchen brachte.

Als Kinder Sänger wie Howard Carpendale oder Bands wie die Flippers für eine musikalische Offenbarung hielten, weil das Fernsehen sie automatisch zu Stars machte und sie noch nicht wussten, dass deren Musik genauso beliebig war wie die Texte. Als es noch nicht dieses Überangebot gab und wer, wenn er Stars sehen wollte, den Fernseher anmachen musste, weil diejenigen, die im Fernsehen waren, einfach Stars sein mussten.

Internet? Nicht mit Carmen Nebel

Inzwischen kann man Stars und solche, die es nie werden, im Überfluss haben. Bei Twitter, Facebook, Instagram, Youtube und Co. kann man ihnen bei ihrem Treiben zugucken, der Fernseher spielt für's Star sein immer weniger eine Rolle. Und wenn man doch einmal die Glotze anmacht, dann kriegt man dort allen Orten zu hören, dass man die Sendung und deren Zusatzangebot doch ohnehin besser im Internet anguckt.

Wie erholsam muss dem Zuschauer, der mit Second-Screen-Angeboten und Co. nichts anfangen kann, die Carmen-Nebel-Show an diesem Abend vorgekommen sein. Die einzige Interaktivität, die der Zuschauer leisten musste, war, die eingeblendete Telefonnummer anzurufen, wenn er etwas an die Deutsche Krebshilfe spenden wollte. Ansonsten wurde er von den inzwischen üblichen "Lass uns doch mal gucken, was die Leute bei Twitter so über unsere Sendung sagen"-Unterbrechungen und anderem überflüssigen Kram in Ruhe gelassen. Willkommen im Fernsehen des 20. Jahrhunderts!

Alexander Klaws als Frank Sinatra

Stattdessen hielt Carmen Nebel ihr Versprechen und kündigte eine Unterhaltungslegende nach der anderen an. Wobei Legende hier vor allem alt bedeutete. Deshalb durfte Tony Christie sich zum gefühlt 1000. Mal auf den Weg nach Amarillo machen und die Ost-Rocker von City, Karat und den Puhdys ihre größten Hits darbieten. Und wenn die eigentliche Legende zu alt, weil schon tot, war, dann musste eben DSDS-Sieger Alexander Klaws den Frank Sinatra geben, egal, ob er dafür die Stimme hat oder nicht. Das junge Publikum sah das ZDF mit Andrea Berg oder Pur ausreichend bedient.

Und auch in puncto Humor war man voll auf der Höhe der Achtziger. Da durfte Matze Knop dem Andy Borg ob dessen geringer Körpergröße den "Testfahrer bei Matchbox" als Job vorschlagen, während Borg selbst am Ende, in Anspielung auf die nächste Show im Dezember, als Weihnachtsmann auf die Bühne kam und nach Lachern fischte. Ja, bei Samstagabendshows muss man den Humor selbst mitbringen, wenn man mal lachen will.

3.170.874 Gründe für "Willkommen bei Carmen Nebel"

Am Ende war das gestern Abend eine Carmen-Nebel-Show, wie eine Carmen-Nebel-Show eben ist und wenn man nicht will, dass die TV-Unterhaltung der 1980er ausstirbt, dann macht man genau so eine Show. Wer seit Jahrzehnten seine Fernsehgewohnheiten nicht geändert hat – und wenn man sich bei den Alternativen am Samstagabend so umsieht, besteht auch wenig Grund dazu – der wird sich auch gestern Abend wieder genüsslich die Salzstangenreste aus den Backenzähnen gepuhlt haben. Und am Ende gibt es 3.170.874 Gründe, warum es eine solche Show weiter geben soll. Auch, wenn man kein Fernseh-Nostalgiker ist.

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