Drei Viertel der SPD-Wähler haben die Partei nicht aus Überzeugung gewählt, sondern aus Angst vor der AfD. Warum holt die SPD viele Wähler programmatisch nicht mehr ab? Und was bedeutet der Wahlsieg auf Bundesebene?
In Brandenburg wurde gewählt. Mit 30,9 Prozent aller Wählerstimmen sicherte der amtierende Ministerpräsident
Aber dieser Wahlsieg scheint weniger auf den inhaltlichen Programmpunkten der Sozialdemokraten zu beruhen, sondern vielmehr auf der Ablehnung vieler Wählerinnen und Wähler für die AfD, die mit 29,2 Prozent nur knapp dahinter liegt.
Laut Umfragen von Infratest Dimap gaben 75 Prozent der SPD-Wähler an, dass die Partei sie inhaltlich nicht überzeuge – sie aber trotzdem für sie stimmen, "um eine starke AfD zu verhindern".
Auch die Politikwissenschaftlerin Ursula Münch sieht eine klare Tendenz, die SPD bei den Wahlen in Brandenburg als "Verhinderungspartei" zu betrachten. Sie betont jedoch, dass dieser Aspekt allein nicht den Erfolg von Ministerpräsident Woidke erklären kann.
Denn: Woidke genieße als Person hohe Wertschätzung – auch unabhängig von seiner Partei. "Die Wahl in Brandenburg war vor allem auch eine Persönlichkeitswahl, die mit der Programmatik der SPD tatsächlich weniger zu tun hatte", so Münchs Fazit.
Das Problem mit der Programmatik
Für Münch ein weiteres deutliches Signal, dass die einstige Programmatik der "Arbeiterpartei" für viele Wähler in den Hintergrund getreten ist. Nämlich, dass der Anteil der Menschen, die sich selbst als "Arbeiter" beschreiben und die SPD gewählt hat, laut Infratest Dimap nur noch 24 Prozent beträgt. Bei der AfD sind es mit 46 Prozent hingegen beinahe doppelt so viele.
Der SPD seien laut Münch, ebenso wie anderen europäischen sozialdemokratischen Parteien, die Arbeiter schon länger abhandengekommen. Die Gründe dafür sieht sie in den Themen der Partei und den Werdegängen ihres Personals.
"Statt klassischer Arbeiter besetzen vor allem Juristen, Politikwissenschaftler oder Lehrer die Spitzenpositionen der Partei." Dieser Wandel schwäche die historisch gewachsene Bindung der Arbeiterschaft an die SPD erheblich.
Zudem entspreche die Ausrichtung der Partei laut Münch nicht mehr den Interessen vieler Arbeiter. Insbesondere die migrationsfreundliche Politik der SPD stoße auf Kritik: "Zuwanderer werden gerade von Arbeitern sowohl auf dem Arbeitsmarkt als auch bei der Wohnungssuche eher als Konkurrenten und relativ selten als Bereicherung wahrgenommen."
All das führe bei der einst wichtigsten Klientel der Partei zu einer Entfremdung.
Wandel zur AfD Verhinderungspartei
Münch zufolge lasse sich die Brandenburg-Wahl deshalb vor allem als "direkte Konfrontation" zwischen SPD und AfD lesen. Was sie meint: Der Wahlkampf war stark polarisiert, ähnlich wie in den USA: "Entweder du bist blau oder rot".
Die SPD stehe nun vor der Herausforderung, diese Spaltung in Zukunft aufzulösen. Gleichzeitig müsse sie sich von der AfD distanzieren und klarmachen, warum sie diese als Gefahr sieht. Ein Balanceakt.
Und als wäre das nicht schon genug, müssten die demokratischen Parteien auch untereinander ihre inhaltlichen Unterschiede klarmachen. Sollten sie ihre Programmatik und Überzeugungen nicht klar formulieren, droht ihnen laut München nur noch als "Verhinderungsblock" wahrgenommen zu werden.
Verhinderungspartei ist nicht nachhaltig
Sich lediglich als AfD-Verhinderer wählen zu lassen, ist Münch zufolge keine nachhaltige Strategie und dürfte auf Bundesebene auch nicht tragen. Der SPD fehle dazu eine klare Ausrichtung. Der Fokus auf Personen wie Woidke in Brandenburg "verdeckt diese Schwächen, löst das Grundproblem aber nicht."
Ein weiteres Problem sieht Münch darin, dass die SPD in den vergangenen Jahren zunehmend ältere Wähler mobilisiert. Denn diese Wählerschaft werde in Zukunft wegbrechen. Tatsächlich war rund die Hälfte der SPD-Wähler in Brandenburg 70 Jahre oder älter. "Wahrscheinlich ist man in dem Alter weniger anfällig für populistisches Geschwätz", vermutet Münch.
Zudem zieht sie eine interessante Parallele: "Die Wählerschaft der SPD deckt sich weitgehend mit dem Publikum des öffentlich-rechtlichen Rundfunks." Diese älteren Wählergruppen seien "empfänglicher für Einordnungen durch seriöse Medien."
Bei der mittleren und jüngeren Generation hingegen spielen Tageszeitungen und öffentlich-rechtliche Sender eine weitaus geringere Rolle.
Wenig Jüngere wählten die SPD
Bei den Jüngeren kommt die SPD auch deutlich weniger gut an als die AfD. Tatsächlich war der Zuspruch der AfD bei der Landtagswahl in Brandenburg in der Altersgruppe der 16- bis 24-Jährigen mit 31 Prozent enorm (+13), während die SPD nur 19 Prozent erhielt – obwohl die Partei hier ein Plus von 7 Punkten verzeichnen konnte.
Münch betont, dass "gerade die Jüngeren Zukunftsängste haben" und nicht auf Lebensqualität verzichten wollen. Die AfD hingegen trifft bei diesen Wählern den richtigen Ton, indem sie ihnen genau das sagt, was sie hören wollen: "Die AfD sagt, man müsse sich nicht einschränken wegen des Klimawandels und auch nicht, um Flüchtlinge aufzunehmen." Viele junge Menschen spreche diese Botschaft laut Münch mehr an als die Verzichtsappelle der anderen.
Zwar habe die SPD inzwischen ihren Migrationskurs angepasst und stehe nicht im Vordergrund als klassische Klimapartei. Dennoch sieht Münch ein weiteres Problem in der Art, wie die Partei kommuniziert: "Ein zentrales Problem der SPD ist ihre Sprache, die oft wenig mit der Sprache der Menschen zu tun hat – insbesondere der jungen Generation."
Im Gegensatz dazu verstehe es die AfD, Themen zuzuspitzen und ihre Botschaften geschickt über soziale Medien an die Jugend zu bringen: "Das kommt natürlich gut an."
Welche Konsequenzen könnten auf Bundesebene folgen?
Münch warnt davor, den "Wahlsieg in Brandenburg als eine Bestätigung für die eigene Politik auf Bundesebene" zu interpretieren. Das könne für die SPD sonst "fatale Folgen haben."
"Es gibt genügend Leute in der SPD, die das erkannt haben. Aber der Kanzler wird sagen, es ist doch alles gut gelaufen. Was habt ihr denn?", so Münch.
Diese Selbstzufriedenheit könnte für Olaf Scholz gefährlich werden, weil er, auf ein erneutes Wahlwunder hoffe, ohne die unerlässlichen Veränderungen anzugehen. "Aus meiner Sicht besteht für die SPD die Gefahr, den Wahlsieg als Bestätigung zu sehen, anstatt als Aufforderung, sich dringend neu zu orientieren – was eigentlich nötig wäre."
Ob Olaf Scholz diesen notwendigen Schritt erkennt und ihn auch geht? Münch glaub nicht daran. "Der Kanzler ist so wie er ist. Der wird so weiter machen wie davor."
Zur Person:
- Prof. Dr. Ursula Münch war von 1999 bis 2011 Professorin für Politikwissenschaft mit den Schwerpunkten Innenpolitik und Vergleichende Regierungslehre an der Universität der Bundeswehr München. Seit 2011 leitet sie als Direktorin die Akademie für Politische Bildung, wo sie ihre politische Expertise weiter vertieft und einbringt.
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