- Der Europäischen Union wird vorgeworfen, zu wenig Impfstoff gegen das Coronavirus bestellt zu haben.
- Der Hamburger Epidemiologe Ralf Reintjes sieht positive und negative Aspekte der EU-Impfstrategie.
- Brüssel hätte seiner Ansicht nach stärker darauf dringen müssen, zuerst beliefert zu werden.
Endlich kann geimpft werden. Doch in vielen Ländern Europas gehen die Impfungen gegen das Coronavirus nur langsam voran. In den eilig gebauten Zentren in ganz Deutschland könnten beispielsweise wohl deutlich mehr Menschen immunisiert werden – allerdings reichen die gelieferten Impfstoffe dafür nicht aus.
In der Kritik steht deshalb derzeit die Europäische Kommission. Schließlich hatten die Mitgliedsstaaten ihre gemeinsame Impfstoffbestellung im vergangenen Jahr in die Hände der EU gelegt. Ist in Brüssel alles falsch gelaufen?
Als Einheit bessere Verhandlungsposition
"Der Grundgedanke war gut", sagt Ralf Reintjes, Professor für Epidemiologie an der Hochschule für angewandte Wissenschaften in Hamburg, im Gespräch mit unserer Redaktion. "Die EU hat einiges erreicht, indem sie als große Einheit von 27 Staaten gegenüber den Pharmakonzernen aufgetreten ist."
Dadurch lassen sich günstigere Kaufverträge und ein besserer Versicherungsschutz aushandeln, erklärt Reintjes. "Auch kleine Länder wie Malta oder Luxemburg haben zudem die Möglichkeit, ernst genommen zu werden."
"Bei Auslieferung nicht vorne in der Reihe"
2020 hat die EU-Kommission Verträge über den Kauf von insgesamt 300 Millionen Impfdosen des Produkts von Biontech und Pfizer geschlossen, zudem sicherte sie sich 160 Millionen Dosen des Vakzins des US-Herstellers Moderna. Die bestellte Menge wird jetzt aber nur langsam ausgeliefert, weil die Unternehmen mit der Produktion nicht nachkommen.
Im Januar stockte die EU ihre Bestellung bei Biontech und Pfizer daher um noch einmal 300 Millionen Dosen auf. Weitere Bestellungen werden die Produktion allerdings nicht schneller machen.
Brüssel habe bei der Beschaffung versagt, lautete daher die Kritik. SPD-Generalsekretär
Reintjes kann die Kritik an der europäischen Strategie zum Teil nachvollziehen. "Das Problem ist, dass die EU bei der Auslieferung nicht vorne in der Reihe steht und damit viel Zeit verloren geht. Die Priorität hätte lauten müssen, als erster beliefert zu werden", sagt Reintjes.
Einzelheiten über die Abkommen mit den Pharmafirmen sind nicht bekannt, weil die EU diese bisher nicht veröffentlicht. "Man hätte mehr Geld in die Hand nehmen können, denn die Zeit drängt. Wenn wir jetzt nicht schnell impfen können, wird sich das Virus schnell weiterverbreiten", erklärt Reintjes
Schnellere Fortschritte in Israel und Großbritannien
Mehr Geld in die Hand genommen hatte Israel: Das Land hat offenbar einen höheren Preis für den Impfstoff bezahlt als die Europäische Union. "Die EU zahlt für eine Impfdosis etwa 18 US-Dollar. Israel zahlt laut Medienberichten 30 US-Dollar", sagte ein israelischer Journalist gegenüber der ARD. Israel wurde daher schneller beliefert, hat allerdings auch nur neun Millionen Einwohner. Anfang dieser Woche waren bereits 19,5 Prozent der Bevölkerung geimpft.
Einen Vorsprung hat auch Großbritannien, wo die Immunisierung bereits am 8. Dezember begonnen hat. Die Arzneimittelbehörde hatte dem Impfstoff von Biontech und Pfizer dort schnell eine Notfallzulassung erteilt.
"Großbritannien hat in der Pandemie bisher vieles falsch gemacht", sagt Experte Ralf Reintjes. "Man hat aber das Gefühl, dass die ernste Situation dort jetzt zu einem Umdenken geführt hat und das Land jetzt erfolgreich alles daransetzt, die Verbreitung zu stoppen."
EU setzt auf unterschiedliche Hersteller
Ein weiterer Kritikpunkt: Die EU teilte ihre Bestellungen auf mehrere Hersteller auf. Sie sicherte sich neben den inzwischen zugelassenen Produkten von Biontech/Pfizer und Moderna auch Impfstoffe der Firmen AstraZeneca, Sanofi-GSK, CureVac und Johnson&Johnson, die bisher noch nicht auf dem Markt sind. Zum Zeitpunkt der Bestellung war nicht sicher, welcher Hersteller am Ende als erster sein Vakzin auf den Markt bringen würde – auch wenn Biontech und Pfizer schon deutlich vorne lagen.
Die Aufteilung auf mehrere Hersteller war offenbar auch den Interessen der Einzelstaaten geschuldet: Manche Regierungen wollten auf jeden Fall Unternehmen aus dem eigenen Land auf der Liste haben, manche favorisierten eher günstige Impfstoffe.
Die Bestellungen zu streuen, war Reintjes zufolge aber auch aus epidemiologischer Sicht "vollkommen richtig": "Wir wissen heute noch nicht, ob die Impfstoffe, die noch in der Zulassung sind, vielleicht Vorteile gegenüber denjenigen haben, die schon vorhanden sind."
Erstimpfungen vorziehen?
Der Experte glaubt, dass die kommenden zehn bis zwölf Wochen die schwierigste Zeit der Pandemie sein werden. Denn bis es im April wieder wärmer wird, könnten sich noch besonders viele Menschen anstecken. Umso wichtiger sei es, jetzt schnell zu impfen.
Der Impfstoff von Biontech und Pfizer muss zweimal innerhalb von höchstens 42 Tagen gespritzt werden. Die meisten Staaten halten vorhandene Mengen zurück, damit die nötige zweite Dosis für die bereits Geimpften auf jeden Fall vorhanden ist. Diskutiert wird gerade, ob es sinnvoll wäre, diese zurückgehaltenen zweiten Dosen jetzt für Erstimpfungen zu verwenden.
In Deutschland ist diese Strategie umstritten, Experten befürchten unter anderem, dass die Zahl der Antikörper nach der ersten Dosis nicht für einen Schutz ausreicht. Reintjes dagegen hält die Strategie für denkbar: "Die erste Dosis allein bietet noch keinen Langzeitschutz, aber zumindest einen Teilschutz mit einem deutlichen Effekt", sagt er. "Die zweite Dosis etwas nach hinten zu verschieben, würde es ermöglichen, ein paar Hunderttausend Menschen mehr zumindest mit der ersten Dosis zu impfen."
Verwendete Quellen:
- Gespräch mit Prof. Dr. Ralf Reintjes, HAW Hamburg
- Europäische Kommission: Coronakrise – Impfstoffstrategie
- Reuters: End in sight? Israel rolls out COVID booster shots
- tagesschau.de: Warum Israel so viel schneller impfen kann
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