An Boris Palmer scheiden sich die Geister. Der grüne Oberbürgermeister von Tübingen erklärt im Exklusiv-Interview, warum er sich bei Flüchtlingsthemen künftig zurückhalten will, warum er ein baldiges Ende der großen Koalition erwartet und was sein Parteikollege Robert Habeck besser kann als er.

Ein Interview

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Boris Palmer, grüner Oberbürgermeister von Tübingen, ist bei seinen Parteikollegen auf Bundesebene nicht sonderlich wohlgelitten. Mit seinen Aussagen zur Migrations- und Flüchtlingspolitik hat er sich von seiner eigenen Partei entfremdet.

Im Interview mit unserer Redaktion erklärt Palmer, wie er sich seiner Partei wieder annähern will und was ihn vom Grünen-Vorsitzenden Robert Habeck unterscheidet. Der 46-Jährige verrät außerdem, warum er an ein baldiges Ende der großen Koalition glaubt und warum Schwarz-Grün seiner Meinung nach auf Bundesebene eine echte Chance hat.

Herr Palmer, Sie gelten als authentischer Politiker, der den Leuten nicht nach dem Mund redet. Ist das auch Teil Ihres Erfolgs?

Boris Palmer: Also für den konkreten Erfolg in Tübingen hilft es nicht. Das macht mir nur zusätzlichen Ärger, weil ich nicht nur bundesweit kontroverse Positionen vertrete, sondern auch hier in der Stadt. In der Partei bringt es mich auch nicht gerade voran, sondern eher an den Rand.

Warum tun Sie sich das dann an?

Der Grund, warum ich das mache, ist nicht der Erfolg, sondern dass ich Einmischung für eine Bürgerpflicht halte und nicht schweigen will, wenn ich der Meinung bin, dass ich etwas ändern muss.

Sie haben angekündigt, sich bei Flüchtlingsthemen künftig zurückhalten zu wollen. Weil es Ihnen zu viel Ärger einbrachte?

Nein, aber ich will mich zu diesem Thema nur noch äußern, wenn es Tübingen unmittelbar betrifft.

Vorfälle in meiner eigenen Stadt werde ich sicher nicht ignorieren. Aber die bundespolitische Debatte ist spätestens mit dem Werkstattgespräch der CDU an einen Punkt gekommen, wo meine Intervention nicht mehr erforderlich ist. Was da gesagt wird, halte ich für richtig.

Inwiefern?

Wir brauchen Führung und Konsequenzen für Asylbewerber, die unsere Regeln missachten. Daran hat es vier Jahre gefehlt, diese Erkenntnis setzt sich langsam durch.

Das heißt aber nicht, dass Sie die Lust am politischen Streiten verloren haben, oder?

Keinesfalls, aber es ist sehr kräftezehrend. Es ist nicht die Pflichtaufgabe des Oberbürgermeisters von Tübingen. Ich habe ein Buch dazu geschrieben ["Wir können nicht allen helfen" (2017); Anm.d.Red.] und viele Vorträge gehalten.

Mein Herzensthema ist es nicht, mir persönlich macht es vor allem Ärger mit meinen Parteifreunden. Mein Herzensthema ist die Ökologie. Deswegen bin ich bei den Grünen. Ich bin froh, wenn ich mich diesem viel wichtigeren Thema wieder mehr zuwenden kann.

"Law-and-Order-Grüner", "Thilo Sarrazin der Grünen" oder "Krawall-OB" sind nur einige der Stempel, die man Ihnen gerne aufdrückt. Gibt es Bezeichnungen, die Ihnen wirklich weh tun?

Nein, weh tut das nicht. Aber es schadet der Debatte. All diese Versuche zu schubladisieren, zu brandmarken und zu stigmatisieren sind für den Diskurs verheerend.

Denn tatsächlich will man sich ja damit der Pflicht zu argumentieren entziehen und macht lieber die Person madig. Diesen Stil finde ich ätzend.

Ihre Erfolge in Tübingen können sich sehen lassen. Können die Grünen es sich erlauben, auf Ihre Dienste zu verzichten, wenn es um die Bundespolitik geht?

Ja, ganz offensichtlich. Die Umfragewerte gehen ja durch die Decke.

Stört also einer wie Sie nur?

Das kann auf manchen Betrachter so wirken. Ich sehe meine Rolle anders, nämlich als kritisches Korrektiv, als Praktiker, der jeden Tag Entscheidungen treffen muss und der versucht, in der eigenen Partei für Realismus zu werben.

Trotzdem haben Sie sich von den Grünen entfremdet.

Das war über die letzten Jahre so, ja. Im Kern ging es um die Differenz in der Flüchtlings- und Migrationsfrage. Wobei sich die Partei und die ganze deutsche Politik in den vergangenen vier Jahren mehr auf mich zubewegt haben, als ich auf sie. Aber Recht zu haben macht einen ja meistens nicht sympathischer, sondern eher noch verhasster.

Wie muss man sich das vorstellen? Gehen die Parteikollegen nicht mehr ans Telefon, wenn Sie in Berlin anrufen?

Doch, ich habe schon noch Telefon- und SMS-Kontakte zu langjährigen Freunden. Aber manche richten mir nur noch ausschließlich über die Medien aus, was ich alles angeblich falsch gemacht habe. Das ist natürlich nicht produktiv.

Haben Sie schon mal über einen Parteiaustritt nachgedacht?

Nein. Ich bin in der Partei, weil ich Ökologie für die wichtigste Frage des 21. Jahrhunderts halte. Ich behaupte, da habe ich in meiner zwölfjährigen Amtszeit etwas vorzuweisen, was für die Partei auch nützlich und hilfreich sein könnte. Und ich will den Versuch machen, diese Kompetenz wieder stärker zur Geltung zu bringen.

Sie gelten als Befürworter schwarz-grüner Koalitionen. Ist eine solche Konstellation auf Bundesebene 2021 möglich?

Zurzeit müsste die Frage eher lauten: Welche Konstellation könnte man sich denn sonst noch vorstellen? Rein numerisch geht fast nichts mehr.

Schwarz-Grün ist aktuell wohl die einzige Zweier-Konstellation mit Mehrheit, weil es die neue große Koalition ist. Warum sollte man sich dann nicht vorstellen können, dass das auch inhaltlich funktioniert?

Weil nicht immer automatisch die zwei stärksten Parteien auch inhaltlich zusammen passen und weil es in der Bevölkerung vielleicht noch Vorbehalte gegen Schwarz-Grün gibt?

Ich glaube, die Zeiten sind vorbei. Wir haben jetzt schon zwei gut funktionierende Regierungen in Hessen und Baden-Württemberg mit dieser Konstellation. Und wie schwer die Verhandlungen für Koalitionen sind, die aus drei Parteien bestehen, hat man bei den Jamaika-Verhandlungen gesehen. Wenn Schwarz-Grün eine Mehrheit hätte, würden es die Menschen nach meiner Überzeugung begrüßen, wenn man so eine Regierung auch macht.

Glauben Sie, dass die große Koalition noch bis 2021 durchhält?

Das hängt nur von der SPD ab. So, wie ich die Erschütterungen dort wahrnehme und wie ich das Europawahl-Ergebnis erwarte, glaube ich derzeit nicht mehr daran, dass die Regierung bis 2021 weiter besteht.

Interpretieren Sie die Vorschläge, die die SPD zur Reform des Sozialstaats gemacht hat, als Signal, dass die Genossen die GroKo eigentlich vorzeitig beenden möchten?

Das scheint mir zunächst mal Seelenhygiene für die SPD zu sein, die hat sie offensichtlich auch bitter nötig. Ich kann vieles von dem, was da formuliert wird, auch nachvollziehen. Aber was ich mir nicht vorstellen kann, ist, wie man das mit der CDU in der Regierung umsetzen könnte. Von daher mag das auch ein Hintergedanke sein, sich inhaltlich so abzugrenzen, dass ein Koalitionsbruch erklärbar wird.

Ihr Facebook-Experiment "Blasentausch" mit dem "Spiegel"-Journalisten Hasnain Kazim hat für viel Aufmerksamkeit gesorgt. Eine Woche lang haben Sie Ihre Facebook-Accounts getauscht, um sich der Followerschaft des anderen zu stellen und kontrovers zu diskutieren. Mit der abschließenden Bewertung des Experiments durch Kazim scheinen Sie nicht sehr zufrieden zu sein.

Den Artikel auf "Spiegel Online" fand ich grob ungerecht gegenüber meiner Community von 50.000 Leuten. Das mit dem Fazit abzuwatschen, "Ohgottohgott, wir wussten schon immer, dass die Rechten Idioten sind, mit denen man nicht reden kann", war dem Experiment nicht angemessen. Da haben wir eine Differenz.

Wie beurteilen Sie das Experiment?

Ich nehme die Umfragen zum Maßstab, die ich auf beiden Seiten gemacht habe. Von 1.500 Facebook-Nutzern, die abgestimmt haben, bewerteten 70 Prozent das Experiment als lehrreich und als Erfolg. Für mich war es das auch, weil Gespräche über eine Kluft hinweg begonnen wurden.

Spätestens seit Donald Trump ist Social Media für Politiker nicht mehr wegzudenken. Haben Sie als eifriger Facebook-Nutzer Tipps für Ihre Kollegen?

Das Wichtigste ist, dass man das selbst macht und nicht einer Pressestelle übergibt. Dann wird es zum Marketing. Daran hätte ich kein Interesse. Dass ich mit den rund 50.000 Abonnenten eine sehr große Community aufgebaut habe, kommt daher, dass ich sehr klar und pointiert Stellung beziehe und alle wissen, dass sie mit mir diskutieren und nicht mit meinen Mitarbeitern.

Was sollte man auf keinen Fall tun?

Oh je, da gibt's ganz viel. Ich habe schon zig schwere Fehler gemacht. Man sollte keine falschen Meldungen verbreiten, denen man zu schnell geglaubt hat. Man sollte nicht glauben, dass Ironie verstanden wird. Man sollte sich auch nicht von Fake-Profilen in Diskussionen verwickeln lassen, wo einem dann mal der Gaul durchgeht. Denn der Satz wird dann rausgerissen und noch jahrelang zitiert.

Robert Habeck hat sich von Twitter und Facebook verabschiedet. Können Sie diesen Schritt nachvollziehen?

Das kann ich schon verstehen, ja, weil es echt anstrengend ist und auch viel Frustration mit sich bringt. Das Geholze, die mangelnde Bereitschaft, auf andere einzugehen, die anonymen Trolle - das ist alles ärgerlich. Aber wenn man sich selbst davon verabschiedet, ist es deswegen ja nicht weg. Ich glaube, dass die Politik insgesamt, nicht der einzelne Politiker, das Netz nicht den Rechten und Radikalen überlassen darf, sondern dass jeder mitmischen muss.

Und was kann Robert Habeck, was Sie nicht können?

Er kann ganz offensichtlich die Partei für sich begeistern und die Wähler für grüne Politik bundesweit so einnehmen, dass die besten Umfragewerte aller Zeiten entstanden sind. Das würde ich mir nicht zutrauen.

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