Die Abgeordneten im Unterhaus entscheiden die Brexit-Machtprobe mit Premierminister Johnson für sich. Auch eine Neuwahl bleibt ihm vorerst verwehrt.

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Das britische Unterhaus hat gegen den Willen von Premierminister Boris Johnson ein Gesetz gegen einen ungeregelten EU-Austritt am 31. Oktober angenommen.

Im Anschluss ist Johnson mit seinem Antrag auf eine Neuwahl im Unterhaus in London gescheitert.

Die Abgeordneten votierten in dritter Lesung mit 327 zu 299 Stimmen für das Gesetz. Damit es in Kraft treten kann, muss es auch noch das Oberhaus passieren - dort warten aber weitere Fallstricke wie eine Flut von Anträgen und Dauerreden (Filibuster). Schon bei zwei Abstimmungen zuvor hatte Johnson eine deutliche Niederlage kassiert.

Abweichler in eigenen Reihen

Das Gesetz gegen den ungeregelten EU-Austritt soll Johnson dazu zwingen, eine dreimonatige Verlängerung der Brexit-Frist zu beantragen, falls bis zum 19. Oktober kein Abkommen mit der EU ratifiziert ist. Der Antrag müsste dann von den übrigen 27 EU-Mitgliedstaaten einstimmig gebilligt werden.

Auf große Kritik stieß Johnsons harte Vorgehensweise gegen Abweichler in seiner eigenen Partei. So etwas dürfe nicht passieren, schrieb eine Gruppe von gemäßigten Konservativen. Mehr als 20 Tory-Rebellen, die gegen die Regierung gestimmt hatten, wurden aus der Fraktion ausgeschlossen. Darunter waren der ehemalige Schatzkanzler Philip Hammond und Alterspräsident Ken Clarke. Sie sollen nun bei der nächsten Parlamentswahl nicht mehr für die Konservativen antreten dürfen.

Rückendeckung von Trump

Johnson will Großbritannien am 31. Oktober aus der Staatengemeinschaft führen, "komme, was wolle". Er hofft, Brüssel damit zu Zugeständnissen bei dem bereits drei Mal im Unterhaus gescheiteren Brexit-Deal bringen zu können.

US-Präsident Donald Trump sprach Johnson erneut sein Vertrauen aus: Dieser verstehe es, hart zu ringen, um letztlich zu siegen, sagte Trump im Weißen Haus. "Boris weiß, wie man gewinnt."

Auch für die Gegner eines ungeregelten Brexits gab es am Mittwoch einen Rückschlag: Das oberste schottische Zivilgericht wies eine Klage gegen die von Johnson erwirkte mehrwöchige Zwangspause des Parlaments ab. Das Gericht fühle sich für diese Streitfrage nicht zuständig, berichteten britische Medien aus dem Gericht in Edinburgh.

Geklagt hatten etwa 75 Parlamentarier. Sie sehen in der von Johnson angestrebten wochenlangen Schließung des Unterhauses vor dem EU-Austritt des Landes Ende Oktober eine unzulässige Einschränkung des Parlaments. Sie legten umgehend Berufung ein. Bereits am Donnerstag soll es dazu eine Anhörung geben. Ähnliche Klagen wurden auch vor Gerichten im nordirischen Belfast und in London eingereicht.

Umstrittener Schritt

Am Donnerstag sollte der Fall vor dem High Court in der britischen Hauptstadt verhandelt werden. Ein letztinstanzliches Urteil dürfte aber am Ende der Supreme Court fällen. Der Klage in London hatte sich auch der konservative Ex-Premierminister John Major angeschlossen.

Johnson hatte bei Königin Elizabeth II. erfolgreich beantragt, das Parlament von Mitte September bis Mitte Oktober zu suspendieren, um in einer neuen Sitzungsphase sein Regierungsprogramm vorzulegen. Der Schritt ist so kurz vor dem Brexit Ende Oktober höchst umstritten. Die Gegner eines ungeregelten EU-Austritts stehen unter großem Zeitdruck.

Die Bundesregierung möchte die Auseinandersetzungen im britischen Unterhaus nicht kommentieren. Regierungssprecher Steffen Seibert sagte in Berlin: "Die Bundesregierung beobachtet die Abläufe im britischen Parlament mit Interesse."

Appell von Weber

Der CSU-Europapolitiker Manfred Weber forderte eine harte Linie der EU gegen die Regierung von Johnson. "Die Methode Johnson darf keinen Erfolg haben", sagte der Fraktionschef der Europäischen Volkspartei (EVP) in Brüssel. "Die EU muss stark und geeint sein, es darf keine Neuverhandlungen geben."

Johnson fordert Änderungen am EU-Austrittsvertrag und betont, die Chancen dafür seien gestiegen. Doch hat die EU-Seite bisher lediglich gesagt, falls Johnson konkrete neue Vorschläge mache, werde man sie sich anschauen. Dabei geht es um Alternativen zu der Garantieklausel für eine offene Grenze in Irland, zum sogenannten Backstop. Noch wartet die EU-Kommission aber auf die Vorschläge aus London.

Bei einem ungeregelten Brexit will die EU besonders hart getroffenen Mitgliedstaaten, Unternehmen und Arbeitnehmern mit bis zu 780 Millionen Euro helfen. Das Geld soll aus zwei bestehenden Hilfsfonds kommen, sagten EU-Beamte. Diesen Vorschlag der EU-Kommission müssten das Europaparlament und die Mitgliedstaaten allerdings noch absegnen.

Notfallplan der Kommission

Angesichts der Lage in London bleibe ein EU-Austritt ohne Abkommen am 31. Oktober ein "möglicher, wenn auch nicht erstrebenswerter Ausgang". Alle "Interessenträger" seien erneut aufgefordert, sich auf ein No-Deal-Szenario vorzubereiten. Für Unternehmen veröffentlichte die Kommission eine Checkliste mit Hinweisen etwa zu künftigen Regeln, Genehmigungen, Zöllen und Steuern. Wer als Bürger eine Frage hat, kann gebührenfrei beim Call Center Europe Direct anrufen.

Die EU-Kommission brachte auch Notfallplanungen für drei neuralgische Brexit-Punkte auf den letzten Stand: Übergangsregeln für Güter-, Personen- und Luftverkehr, um am 1. November in jedem Fall die wichtigsten Verbindungen aufrecht zu erhalten; das Angebot einer Regelung auf Gegenseitigkeit für Fangrechte britischer und europäischer Fischer; und das Angebot an Großbritannien, auch in Zukunft an EU-Programmen teilzunehmen, wenn das Land weiter in den EU-Haushalt zahlt.

Zankapfel Backstop

Wie die EU im Falle eines ungeregelten Brexits Kontrollen an der irischen Grenze vermeiden will, ist nach wie vor unklar. Die im Austrittsabkommen vorgesehene Backstop-Lösung sei dafür die "einzige Option, die gefunden wurde", erklärte die Kommission. Bei einem Austritt ohne Vertrag wäre diese aber hinfällig.

EU-Diplomaten schätzen auch die Chancen für einen spontanen Brexit-Deal beim EU-Gipfel im Oktober gering ein. "Die Annahme, dass in nur wenigen Tagen ein Vorschlag gemacht, verhandelt, vom Gipfel unterstützt sowie vom Europaparlament und dem britischen Parlament ratifiziert werden könnte, scheint eine eher heldenhafte Annahme, um es vorsichtig auszudrücken", hieß es aus EU-Kreisen.  © dpa

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