Deutschland galt lange Zeit als Sehnsuchtsland für Zuwanderer. Dennoch wandern ausgerechnet die gefragten Fachkräfte lieber in andere Länder aus. Ein Grund: Deutschland war zu faul.

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Anfang Februar steht Christian Lindner (FDP) im weißen Hemd zwischen Studenten im westafrikanischen Ghana. Der Bundesfinanzminister hat auf seinem Afrika-Besuch, bei dem es um Investitionen, Schuldenerlass und die wirtschaftliche Zukunft des Kontinents ging, Zwischenstopp in Accra gemacht, um in einem der prosperierenden Staaten Afrikas um junge Fachkräfte zu werben.

In dem zu etwa einem Drittel gefüllten Lehrsaal erklärt er auf Englisch, in welchen Branchen die Studenten hierzulande arbeiten könnten: in der Industrie etwa, der Technologiebranche oder im öffentlichen Dienst.

So weit, so normal. Doch Lindner will es wissen. Und so stellt er die Frage in den Raum, wer sich denn vorstellen könne, nach Deutschland zum Arbeiten zu migrieren: "Bitte heben Sie Ihre Hand: Für wen wäre das eine Option?"

Lindner hätte die Frage kaum gestellt, wenn er nicht mit einem bebenden Saal gerechnet hätte. Es wäre auch die naheliegendste Reaktion gewesen in einem Land, in dem das durchschnittliche Monatseinkommen bei umgerechnet 70 Euro liegt.

Doch es passiert das Gegenteil: Kaum ein Student hebt seinen Finger. Hinter der Kamera flüstert jemand: "Oh, wow", es folgt ein verlegenes "Okay!" vom Finanzminister. "Ich schreibe mir Ihre Nummer auf", verspricht er, vermutlich nicht ganz ernst gemeint.

Deutschland hat ein ausgewachsenes Fachkräfteproblem

Der vielfach geteilte Auftritt mag lustig wirken, Lindner pariert ihn souverän. Doch er zeigt auch: Das Vorurteil, ganz Afrika wolle zu uns kommen, trifft zumindest auf diese Studenten nicht zu. Deutschland, so scheint es, ist bei denen, die das Land am dringendsten braucht, längst nicht so beliebt, wie die Bundesregierung denkt. Angesichts des Fachkräftemangels, der sich ohne Zuwanderung aus dem Ausland nicht auflösen lässt, ist das ein ökonomisches Problem.

Denn ob Pflegepersonal, IT-Experten, Handwerkern, Technikern oder Logistikern – von allen gibt es zu wenige. Die Statistiker der Bundesarbeitsagentur haben ausgerechnet, dass jährlich 400.000 Fachkräfte zuwandern und bleiben müssten, um den Arbeitsmarkt stabil zu halten, Tendenz steigend. Ab 2025 gehen die sogenannten Babyboomer, die geburtenstarken Jahrgänge, in Rente. Bis 2035 könnten dem Arbeitsmarkt so sieben Millionen Arbeitskräfte verloren gehen. Spätestens dann hätte sich der Fachkräftemangel durch fast alle Branchen gefräst.

In dieser Situation hilft es nicht, dass nicht nur ghanaische Studenten ihre Zukunft in anderen Ländern sehen, sondern die Beliebtheit der Bundesrepublik bei ausländischen Fachkräften auch anderswo durchwachsen ist. Erst kürzlich platzierte eine Studie der Bertelsmann-Stiftung Deutschland unter allen ausländischen Fachkräften, Unternehmen und Start-ups im OECD-Vergleich auf Rang 12 – eine Verschlechterung um drei Zähler.

Bewertet wurden Faktoren wie Aufstiegschancen, Höhe des Einkommens, Möglichkeiten für Familienmitglieder oder die Visa-Vergabe. Das Zurückfallen, so beschreiben es die Autoren der Studie, sei nicht einmal auf eine Verschlechterung der Situation in Deutschland zurückzuführen. Nur hätten sich andere Länder wie Norwegen, Kanada oder Neuseeland eben verbessert. Deutschland, so sieht es aus, wird bei der Fachkräftezuwanderung gerade links überholt.

Diese Entwicklung ist vor allem deshalb interessant, weil Deutschland jahrzehntelang eine besondere Strahlkraft für Zuwanderer hatte. Die Gastarbeiter der 1960er-Jahre fanden hier Beschäftigung, bekamen deutsche Pässe und holten später ihre Familien nach. Die Geflüchteten aus den Jugoslawienkriegen bekamen in Deutschland Sicherheit. Und bis heute machen sich in allen Krisen- und Kriegsgebieten Menschen auf den Weg, um sich irgendwie nach Deutschland durchzuschlagen.

Nur bei den Fachkräften gelingt es Deutschland nicht, attraktiv zu sein, obwohl Marken wie Siemens, SAP oder Adidas auf der ganzen Welt beliebt sind.

EU-Freizügigkeit versorgte Deutschland mit Fachkräften

Für den Demografie-Forscher Reiner Klingholz hat diese Entwicklung vor allem damit zu tun, dass Deutschland zu gemütlich geworden ist. Dank der Arbeitnehmer-Freizügigkeit innerhalb der EU sei man in den letzten Jahrzehnten nicht auf Fachkräfte aus Drittstaaten angewiesen gewesen, sie kamen praktisch von allein.

Weil aber in fast allen westlichen Staaten die Babyboomer bald in Rente gehen, hat sich der internationale Wettbewerb um die Talente so stark verschärft, dass die Binnenmigration innerhalb der EU nicht mehr ausreicht, um den Fachkräftemangel zu beheben. "Deutschland hat sich in der Vergangenheit wenig aktiv um qualifizierte Fachkräfte aus dem Ausland bemüht", sagt Klingholz. Das rächt sich heute.

In dieser Situation sind Länder wie Kanada, Australien oder die USA im Vorteil. Besonders die angelsächsischen Staaten haben schon vor Jahrzehnten auf eine direkte Zuwanderung in den Arbeitsmarkt gesetzt. Im US-Bundesstaat Maryland oder der kanadischen Provinz Ontario gibt es ganze Zuwanderer-Communities, in denen sich Neuankömmlinge an erfolgreichen Vorbildern orientieren können. Sie erhalten Hilfe bei Behördengängen, Zugang zu wichtigen Kontakten und finden ein soziales Umfeld vor.

In diesen Bereichen tut sich Deutschland schwer

Deutschland tut sich damit schwer. Hier hat sich bei Behörden eher die falsche Annahme durchgesetzt, Zuwanderer würden automatisch Kontakte, Geduld und Geld mitbringen. Schaut man zum Beispiel in die Portale für die Terminvergabe für deutsche Visa-Anträge, herrscht dort gähnende Leere; oft sind keine Termine weit und breit zu sehen.

Hoher Bürokratismus und mangelnde Vorbilder prallen dabei auf einen weiteren Wettbewerbsnachteil: die Sprachbarriere. Dass in Deutschland nicht die Weltsprache Englisch gesprochen wird, ist für viele Zuwanderer eine zusätzliche Hürde, die sie woanders nicht nehmen müssen.

Demografie-Experte Klingholz rät daher, es den potenziellen Zuwanderern möglichst leicht zu machen, etwa mit einer Checkliste: "Auf einer Website müsste auf einen Blick und nach einem einheitlichen Muster ersichtlich sein, wo es Arbeit gibt, welches Gehalt gezahlt wird und welche Anforderungen gestellt werden."

Dazu kommt ein mittlerweile ramponiertes Image. Längst, so erklärt es Demografie-Forscher Klingholz, habe sich rumgesprochen, dass Zuwanderer in Deutschland nicht überall mit einer Willkommenskultur empfangen werden – und das gerade in den Bundesländern, in denen der Fachkräftemangel besonders hoch ist.

"Auch Menschen aus Drittstaaten bekommen mit, dass es in manchen Regionen unseres Landes, vor allem in den östlichen Ländern, erhebliche Vorbehalte gegen Menschen aus anderen Kulturen gibt", sagt Klingholz. Er rät daher zu einer klaren Botschaft an die Welt: "Wir suchen und brauchen Fachkräfte. Und wir gewähren bei Erfolg eine rasche Staatsbürgerschaft."

Einführung der Chancenkarte nach kanadischem Vorbild

Weniger Bürokratie, mehr Willkommenskultur: Um herauszufinden, wie dieses Signal in Gesetze gegossen werden kann, sind die zuständigen Fachminister – Innenministerin Nancy Faeser und Arbeitsminister Hubertus Heil (beide SPD) – schon im März nach Kanada geflogen, wo die Zuwanderungspolitik als besonders erfolgreich gilt.

Das war nicht immer so: In den späten 1960er-Jahren stand das heutige Einwanderer-Mekka vor ähnlichen Problemen wie Deutschland heute, man hatte zu lange auf Einwanderung aus Europa gesetzt. 1967 führte die kanadische Regierung dann ein ausgeklügeltes System ein, in dem Kriterien wie die Sprachfähigkeit, Arbeitserfahrung oder berufliche Qualifikation bepunktet werden. 67 von 100 Punkten braucht, wer ins Land will.

Wer eine Ausbildung in einem besonders gefragten Beruf hat, zieht an allen anderen vorbei. Neben den formalen Voraussetzungen hat sich in Kanada aber auch eine einladende Haltung gegenüber Zuwanderern durchgesetzt. Seit 1988 ist der Multikulturalismus in der Verfassung festgeschrieben, Zuwanderer sollen möglichst schnell Mitglieder der Gesellschaft werden, mit allen Rechten und Pflichten. So lockt Kanada jedes Jahr rund 350.000 Zuwanderer an - bei nicht einmal halb so vielen Einwohnern wie in Deutschland.

Deutschland spickt bei den Kanadiern

Zumindest das Punktesystem hat sich Deutschland bei den Kanadiern abgeschaut. Mit dem von der Ampel-Koalition entwickelten und am vergangenen Freitag im Bundestag verabschiedeten Fachkräfteeinwanderungsgesetz sollen Ausländer, die eine berufliche oder akademische Ausbildung haben, auch dann nach Deutschland kommen dürfen, wenn sie noch keinen Arbeitsvertrag haben. Voraussetzung: Sie müssen eine bestimmte Punktezahl erreichen.

Die bekommen Interessierte, wenn sie eine berufliche Qualifikation vorweisen können, die den deutschen Standards entspricht, sie gute Deutschkenntnisse besitzen oder nicht älter als 35 Jahre sind. Für Demografie-Experten Klingholz ist diese "Chancenkarte" sinnvoll – er warnt jedoch vor zu großen Erwartungen. "Deutschland hätte sich schon vor 15, 20 Jahren an diesem Modell orientieren sollen", sagt er. "Eine erfolgreiche Zuwanderung kann man nicht auf Knopfdruck einführen."

Der FDP, die schon seit Jahren für ein Punktesystem nach kanadischem Vorbild wirbt, kann es jetzt gar nicht schnell genug gehen. Noch am Tag, an dem das Fachkräftegesetz verabschiedet wurde, rollte ein gelbes Tuk-Tuk der Partei durch Neu-Delhi. "Liebe IT-Experten, Programmierer und Webdeveloper, ein deutsches Visum zu bekommen, war für Fachkräfte noch nie einfacher", stand dort auf Englisch geschrieben.

Über den Experten: Reiner Klingholz ist promovierter Chemiker und Molekularbiologe und gilt als einer der führenden deutschen Demografieforscher. Von 2003 bis 2019 war er Direktor des Berlin-Instituts für Bevölkerung und Entwicklung, eine unabhängige Denkfabrik, die Analysen zum demografischen Wandel erstellt. Klingholz hat zahlreiche Bücher zum Thema Demografie und Bevölkerungsentwicklung veröffentlicht.

Verwendete Quellen:

  • Twitter-Profil von Andrea Maurer, Stand 26. Juni 2023
  • Twitter-Profil der FDP-Bundestagsfraktion, Stand 26. Juni 2023
  • Bertelsmann-Stiftung: Deutschland fällt zurück im internationalen Wettbewerb um Top-Talente
  • Statista - Average monthly living wage in Ghana from 2016 to 2019
  • Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung - Nur mit einer jährlichen Nettozuwanderung von 400.000 Personen bleibt das Arbeitskräfteangebot langfristig konstant
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