Die Grünen sind zum Buhmann der Nation geworden. Bei der Bundesdelegiertenkonferenz in Karlsruhe gibt sich die Partei selbstbewusst und trotzig. Mit dem Land hat sie noch viel vor – die Frage ist, ob sie in Zukunft noch Partner für Mehrheiten findet.
Eines muss man den Grünen lassen: Parteitage können sie. Da wird viel gejubelt und sich gedrückt, da wird auch mal eine Träne verdrückt vor lauter Rührung. Das würde man im Fall der Grünen vielleicht nicht unbedingt erwarten. Mit ihrer Politik stoßen sie derzeit auf großen Widerstand – bei Koalitionspartnern, auch in großen Teilen der Bevölkerung.
Ricarda Lang und Omid Nouripour wiedergewählt
Beim aktuellen Parteitag (in der Grünen-Sprache: Bundesdelegiertenkonferenz) in Karlsruhe feiert sich die Partei trotzdem selbst. Die beiden Vorsitzenden
Lang hat in ihrer Rede zuvor einen selbstbewussten Ton gesetzt. Man wolle sich als Partei nicht in eine Nische drängen lassen, sagt sie. Es sei eine historische Aufgabe, Klimaschutz, Wohlstand und soziale Gerechtigkeit miteinander zu verbinden. "Das können nur die Grünen." Um es in den abgewandelten Worten eines italienischen Fußballtrainers zu sagen: Die Grünen haben noch nicht fertig – zumindest aus ihrer eigenen Sicht.
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Für die einen zu kompromisslos, für die anderen zu kompromissbereit
Dieses Selbstbewusstsein ist nicht selbstverständlich. Denn die Grünen sind in einer absurden Zwickmühle gelandet. Ihre Gegner werfen ihnen vor, das ganze Land überfordern und über die Köpfe der Menschen hinweg verändern zu wollen. Dabei kann die Partei ihre Pläne in der Sozial- und Klimapolitik zurzeit gar nicht oder nur eingeschränkt umsetzen. Von einer großen Wärmewende ist eher ein Wärmewendchen geblieben. In der Migrationspolitik tragen die Grünen einen Kurs mit, der die Zahl der Asylbewerber drücken soll. Und die Kindergrundsicherung steht seit den zusätzlichen Sparzwängen im Haushalt wieder zur Diskussion.
Die "Zeit" brachte es vor Kurzem treffend auf den Punkt: Die Grünen werden derzeit leidenschaftlich gehasst für eine Politik, die sie gar nicht betreiben.
Deshalb gelten die Regierungsgrünen aus Sicht von vielen Anhängern wiederum als viel zu unambitioniert und tatenlos. Die Partei sei zu einer "Werbeagentur für schlechte Kompromisse" geworden, heißt es in einem Offenen Brief von Mitgliedern. Ein Delegierter aus Berlin schimpft in Karlsruhe: Die Grünen stünden in der Ampelkoalition ständig als "Verräter ihrer eigenen Versprechen" da.
Die Parteiführung sieht das erwartungsgemäß anders – zumindest sagt sie das. Parteichef Omid Nouripour bringt die Delegierten schon am Donnerstag mit einer rockstarhaften Rede ordentlich in Wallung. "Keine politische Kraft hat dieses Land so verbessert wie Bündnis 90/Die Grünen", ruft er in Karlsruhe, wo die Partei vor 43 Jahren gegründet wurde. Die teils massiven Angriffe auf Spitzenkräfte und einfachen Mitglieder der Partei erklärt er auch mit ihrer Macht: Man sei relevant, man wirke, man stehe im Zentrum der Debatte.
Generell ist für Selbstzweifel in der zugigen Karlsruher Messehalle wenig Platz. Parteitage sind für alle Parteien immer auch große Familienfeste, Orte der Selbstvergewisserung.
Realitätsfremde Grüne? Habeck: "Ich kann es nicht mehr hören"
Auch der derzeit mächtigste Grüne spricht seiner Partei Mut zu. Vizekanzler und Bundeswirtschaftsminister
Am Donnerstagabend hält Habeck dann eine interessante Rede. Sie beginnt sperrig und endet dann doch mit stehendem Applaus seiner Parteifreunde. Habeck sagt, er habe in der letzten Zeit häufig gelesen, die Grünen müssten in der Realität ankommen. "Ich kann es nicht mehr hören. Und nichts könnte falscher sein", schimpft der Minister.
Aus seiner Sicht sind die Grünen nämlich die einzige realistische Partei: Sie habe die Bedeutung der vielen Krisen der vergangenen Jahre – Corona, Klimawandel, hohe Migrationszahlen – verstanden und handle entsprechend. "Wir haben diese Realität voll angenommen und stellen uns ihr. Es waren andere, die sie verweigert haben. Die Realitätsverweigerung der Groko hat Deutschland in diese Lage gebracht." Die grüne Ideologie heißt aus seiner Sicht Wirklichkeit.
Die "Bündnispartei" verliert ihre Partner
Die Grünen mögen mit sich selbst also zufrieden sein. Sie können auch ganz zufrieden sein mit den Umfrageergebnissen: Die sind trotz des massiven Gegenwinds nicht gut, aber auch nicht so schlecht wie bei den beiden Koalitionspartnern SPD und FDP.
Trotzdem hat die Partei ein Problem: Ihr kommen die Machtperspektiven abhanden.
In Berlin und Hessen sind die Grünen aus den Landesregierungen geflogen, weil CDU und SPD lieber miteinander koalieren als mit dem neuen Buhmann der Nation. Das ist für eine Partei besonders bitter, die sich selbst zur "Bündnispartei" erklärt hat.
Möglicherweise hat das auch ein bisschen mit den Grünen selbst zu tun. Die Grünen würden ständig vermitteln, dass nur sie die Welt retten können, es dann aber nicht richtig hinbekommen, lästerte vor Kurzem ein SPD-Bundestagsabgeordneter.
Auch in der Parteiführung weiß man daher, dass sich die Partei nicht in ein grünes Schneckenhaus zurückziehen und sich nur um sich selbst drehen darf. Parteichef Omid Nouripour hat das in seiner Emotionalität zu Beginn des Parteitags so gesagt: "Lasst uns ausstrahlen, dass wir offene Herzen, offene Arme, offene Augen und offene Ohren haben, auch für Konzepte anderer." Seine Co-Chefin Ricarda Lang gibt den Delegierten ebenfalls diese Aufgabe mit auf den Weg: Die inzwischen rund 126.000 Mitglieder der Partei müssten "rausgehen und Bündnisse schließen". Mit Gewerkschaften, der Industrie und Sozialverbänden.
Das ist angesichts des unverhohlenen Hasses, auf den Grünen-Mitglieder derzeit auf der Straße wie im Internet stoßen, durchaus eine undankbare Aufgabe. Aber eine Partei, die historische Dinge vollbringen will, wird darum nicht herumkommen.
Verwendete Quelle
- Reden und Gespräche auf der Bundesdelegiertenkonferenz von Bündnis 90/Die Grünen
- zeit.de: Blubb, Blubb – wie die Grünen vom Darling zum Depp wurden
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