Beleidigungen, Bedrohungen, Steinwürfe. Die Grünen sind für viele Menschen zum Feindbild geworden. Das bekommen gerade die Mitglieder zu spüren, die sich in der Kommunalpolitik engagieren. Dabei wird die Macht der Partei von ihren Gegnern auch überschätzt.
Vor Kurzem hat Lydia Engelmann eine Nachricht von einem Bekannten bekommen. Sie kennt ihn seit rund 20 Jahren, doch der Bekannte will mit ihr offenbar nichts mehr zu tun haben. Ob es Spaß mache, Flüchtlinge ins Land zu holen, schrieb er ihr. Und: "Ich wünsch dir noch ein schönes Ökoleben."
Lydia Engelmann lebt im sächsischen Freital, sie sitzt dort im Stadtrat sowie im Kreistag des Kreises Sächsische Schweiz-Osterzgebirge. Als es in ihrer Heimat 2015 und 2016 zu rechtsextremen Protesten und Gewalt gegen Flüchtlinge kam, begann sie, sich politisch zu engagieren. 2017 trat sie den Grünen bei.
Seitdem bekommt sie in Wellen Ärger und Wut, manchmal Hass zu spüren. Auch Drohungen in den sozialen Medien musste sie schon hinnehmen. Während der großen Fluchtbewegung, wegen der Corona-Maßnahmen, wegen der Energiepolitik der Ampel-Regierung. "Egal, welche Sau durchs Dorf getrieben wird, wir Grüne sind immer schuld", sagt die 33-Jährige.
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Beschimpfungen, Steinwurf, Faustschlag
Freital ist kein Einzelfall. Im Gegenteil. In Bayern wurden die Grünen-Spitzenkandidaten
Mit Anfeindungen und Bedrohungen müssen auch Politikerinnen und Politiker anderer Parteien leben – von der Linken bis zur AfD. Die drastischsten Fälle waren der Messerangriff auf die parteilose Kölner Oberbürgermeisterin Henriette Reker und die Ermordung des hessischen CDU-Politikers Walter Lübcke. Doch die Grünen scheinen sich derzeit im besonderen Maße zu einem gesellschaftlichen Feindbild zu entwickeln.
Die Corona-Maßnahmen, die Inflation infolge des Ukraine-Kriegs, Tempo 30 auf der zentralen Stadtstraße oder schon wieder keine Currywurst in der Kantine? Für manche Menschen sind im Zweifel immer die Grünen schuld.
Die Grünen sind mächtig – aber nicht allmächtig
Dabei beruht diese Einschätzung auch auf einer Überschätzung der Partei. Die Grünen regieren derzeit zwar im Bund und in 11 von 16 Bundesländern. Aber: Weder in den Ländern noch in irgendeiner Kommune sind sie alleine an der Macht. Ihre Projekte können sie nur mit anderen Parteien umsetzen. Und selbst das gelingt ihnen häufig nur mäßig.
Die Kindergrundsicherung setzte die grüne Familienministerin Lisa Paus nur mit großen Abstrichen durch. Die grüne Außenministerin Annalena Baerbock hat im Sommer entgegen der Überzeugungen der Partei schärferen Asylregeln in Europa zugestimmt. Und vom sogenannten Heizungstausch von Wirtschaftsminister Robert Habeck blieb nach monatelangen Diskussionen nur ein entkerntes Gesetz übrig.
Andreas Audretsch: "Nicht jede Debatte als Kulturkampf austragen"
Trotzdem hat auch die politische Konkurrenz die Grünen als Lieblingszielscheibe entdeckt. Der CDU-Bundesvorsitzende Friedrich Merz hat sie als "Hauptgegner" ausgemacht. FDP-Generalsekretär Bijan Djir-Sarai bezeichnet die Grünen – also wohlgemerkt den eigenen Koalitionspartner in der Bundesregierung – als "Sicherheitsrisiko".
"Es muss aufhören, dass einige versuchen jede Debatte als Kulturkampf auszutragen. Das spaltet die Gesellschaft“, sagt Andreas Audretsch, stellvertretender Vorsitzender der Grünen-Bundestagsfraktion.
Gendersprache oder fleischlose Ernährung werden aus seiner Sicht eher von CDU oder AfD zum Thema gemacht. "Wer Fleisch essen will, soll das tun. Uns geht es um die Qualität von Lebensmitteln und um gute Löhne, damit sich alle gutes Essen auch leisten können", sagt Audretsch. "Wir Grüne kümmern uns um die Brot-und-Butter-Themen. Um soziale Fragen, um faire Löhne, um sichere Jobs im Handwerk und in der Industrie. Neue Klimatechnologien sind ein Jobmotor. Das müssen wir noch stärker in den Mittelpunkt stellen."
Spuren hinterlässt der Kulturkampf allerdings auch an der Basis. Im Kreis Sächsische Schweiz-Osterzgebirge wurde der Friseursalon der Frau eines Grünen-Kommunalpolitikers mehrfach beschädigt, das Paar mehrfach bedroht. "Es gibt Menschen, die sagen: 'Seht ihr, ich kann mich nicht engagieren, wenn ich privat und beruflich mit so etwas klarkommen muss'", sagt Lydia Engelmann.
Dabei lebt eine Demokratie von der Bereitschaft ihrer Bürgerinnen und Bürger, sich auf allen Ebenen des Staates einzubringen. Engelmann ist es auch wichtig zu betonen: "Mir macht die Kommunalpolitik trotz allem unfassbar viel Spaß. Man lernt viel, man kommt mit vielen Menschen in Kontakt, man lernt die eigene Heimat noch einmal ganz neu kennen."
In Sachsen und anderen Teilen Ostdeutschlands ist es für viele Parteimitglieder nichts Neues, im Fadenkreuz von Rechten und Wütenden zu stehen. "In der Kommunalpolitik bleiben häufig diejenigen lange aktiv, die hartgesotten sind und mit Anfeindungen und Bedrohungen umgehen können", sagt die Leipziger Bundestagsabgeordnete Paula Piechotta im Gespräch mit unserer Redaktion. "Ich sage den Mitgliedern an der Basis in Sachsen immer: 'Ihr habt hier einen richtig guten Zugang zu den politischen Ebenen, weil die Grünen jetzt im Land und im Bund mitregieren'", sagt Piechotta. "Euer Engagement macht einen großen Unterschied."
Verwendete Quellen
- Gespräche mit Lydia Engelmann, Andreas Audretsch und Paula Piechotta
- mainpost.de: "Kugel in den Kopf": Grünen-Politiker in Schweinfurt bedroht
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