Ein Labor-Befund der Bundeswehr erschüttert die Beziehungen des Westens zu Russland: Im Blut des Kreml-Kritiker Nawalny wird ein Nervenkampfstoff nachgewiesen. Kanzlerin Merkel reagiert mit einer knallharten Erklärung: "Er sollte zum Schweigen gebracht werden."
Der russische Regierungskritiker
Es stellten sich jetzt "sehr schwerwiegende Fragen", die nur die russische Regierung beantworten könne und müsse, sagte
Das Auswärtige Amt bestellte den russischen Botschafter Sergej Netschajew ein, um Russland dazu aufzufordern, "vollumfänglich und mit voller Transparenz" aufzuklären". Russland müsse die Verantwortlichen ermitteln und zur Rechenschaft ziehen, sagte Außenminister
Parallelen zum Fall Skripal
Das Untersuchungsergebnis erschüttert die ohnehin schon schwer angeschlagenen Beziehungen zwischen Russland und Deutschland sowie anderen westlichen Staaten noch einmal massiv. Ein Nervengift der Nowitschok-Gruppe wurde auch bei der Vergiftung des ehemaligen russischen Doppelspions Sergej Skripal und seiner Tochter Julia im britischen Salisbury 2018 verwendet. Die beiden überlebten nur knapp.
Als Reaktion hatten zahlreiche westliche Staaten russische Diplomaten ausgewiesen. Auch diesmal strebt die Bundesregierung ein abgestimmtes Vorgehen der westlichen Verbündeten an. Merkel und Maas sprachen davon, dass eine "angemessenen" Reaktion gefunden werden müsse. Wie diese ausfällt, "werden wir auch im Lichte dessen entscheiden, wie Russland sich verhält", sagte Maas.
Merkel sprach auch mit Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier über den Fall, was ebenfalls zeigt, wie hoch sie die Bedeutung einschätzt. Die Bundesregierung informierte auch die Organisation für das Verbot chemischer Waffen (OVCW) über den Labor-Befund. Der Konvention für die Ächtung von Chemiewaffen ist auch Russland beigetreten.
Nawalny, der am 20. August auf einem Flug in seiner Heimat plötzlich ins Koma gefallen war und zunächst in Omsk untersucht wurde, wird auf Drängen seiner Familie in der Charité behandelt. Die deutschen Ärzte gingen nach einer Auswertung von klinischen Befunden bereits davon aus, dass er vergiftet wurde. Die russische Regierung hatte die Einschätzung als vorschnell bezeichnet.
Die Charité teilte am Mittwoch mit, der Gesundheitszustand von Nawalny sei weiter ernst. Die Symptome der nachgewiesenen Vergiftung seien zwar rückläufig. Nawalny werde aber weiterhin auf einer Intensivstation behandelt und künstlich beatmet. Mit einem längeren Krankheitsverlauf sei zu rechnen. Langzeitfolgen der schweren Vergiftung seien weiterhin nicht auszuschließen.
Russland kritisiert "laute öffentliche Erklärungen"
Russland kritisierte das Vorgehen der Bundesregierung scharf. "Laute öffentliche Erklärungen werden bevorzugt", teilte das Außenministerium in Moskau russischen Agenturen zufolge mit. "Die vorhandenen gesetzlichen Mechanismen zur Zusammenarbeit werden völlig vernachlässigt."
Putins Sprecher, Dmitri Peskow, betonte jedoch, dass Moskau auf die Erklärung aus Berlin zum jetzigen Zeitpunkt nicht "qualifiziert reagieren" könne. Russland sei bereit zu einer Zusammenarbeit mit den deutschen Behörden, bekräftigte er. Die Generalstaatsanwaltschaft in Moskau habe bereits eine offizielle Anfrage geschickt, diese sei jedoch nicht beantwortet worden. Auch die Ärzte in Moskau und Omsk hätten einen Austausch von Daten angeboten. Auch darauf gab es Peskows Darstellung nach keine Reaktion.
Nicht näher genannte Sicherheitskreise behaupteten weiter vehement, mehrere Labors in Russland hätten Proben untersucht und keine Giftstoffe entdeckt. Russische Agenturen zitierten sogar Nowitschok-Entwickler, dass Nawalny einen echten Anschlag mit dem Nervengift mit Sicherheit nicht überlebt hätte. "Dann wäre er schon längst auf dem Friedhof", sagte Leonid Rink, der zu Sowjetzeiten an der Entwicklung beteiligt war.
Das Umfeld von Nawalny fühlt sich in seiner Überzeugung bestätigt, dass der Befehl für den mutmaßlichen Giftanschlag von oberster Stelle gekommen sei. "Wer Nawalny im Jahr 2020 mit Nowitschok vergiftet, kann auch gleich ein Autogramm am Tatort zurücklassen", schrieb Nawalnys Vertrauter Leonid Wolkow auf Twitter und veröffentlichte dabei die Unterschrift Putins.
Zwei andere Fälle belasten Beziehungen
Die sehr schnelle und klare Reaktion der Bundesregierung zunächst ohne die engsten Verbündeten zeigt, wie entschlossen sie ist, Russland Grenzen aufzuzeigen. Das hat mit einer Vorgeschichte zu tun. Vor einem Jahr stürzte der Mord an einem Tschetschenen mit georgischer Staatsbürgerschaft in der Nähe des Berliner Regierungsviertels die deutsch-russischen Beziehungen in eine Krise. Die Bundesanwaltschaft erhob Mitte Juni Anklage gegen den mutmaßlichen Täter, der in Untersuchungshaft sitzt. Sie geht davon aus, dass er mehr als einen Monat vor der Tat von "staatlichen Stellen der Zentralregierung der Russischen Föderation" beauftragt wurde. Der Prozess soll am 7. Oktober beginnen.
Daneben ist die Bundesregierung zutiefst verärgert über einen weiteren Fall, mit dem sich die Bundesanwaltschaft derzeit befasst: die bisher größte Cyber-Attacke auf den Bundestag im Mai 2015. Rechner in zahlreichen Abgeordnetenbüros waren damals mit Spionagesoftware infiziert worden, darunter auch Computer im Bundestagsbüro der Kanzlerin. Die Karlsruher Ermittlungsbehörde hat einen internationalen Haftbefehl gegen einen jungen russischen Hacker erwirkt. Ihm wird geheimdienstliche Agententätigkeit und das Ausspähen von Daten vorgeworfen.
Forderung nach Ende von Nord Stream 2
Die Bündnispartner stärkten der Bundesregierung am Mittwoch den Rücken. "Es ist ungeheuerlich, dass eine chemische Waffe gegen Alexej Nawalny eingesetzt wurde", schrieb der britische Premierminister Boris Johnson auf Twitter. Die US-Regierung zeigte sich "zutiefst beunruhigt". Der Sprecher des Nationalen Sicherheitsrats im Weißen Haus, John Ullyot, teilte am Mittwoch auf Twitter mit: "Alexej Nawalnys Vergiftung ist vollkommen verwerflich." EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen sprach von einem abscheulichen und feigen Akt: "Die Täter müssen zur Rechenschaft gezogen werden."
In Deutschland gibt es bereits eine Diskussion über konkrete Konsequenzen. Die Grünen fordern einen Abbruch des deutsch-russischen Pipeline-Projekts Nord Stream 2. "Der offenkundige Mordversuch durch die mafiösen Strukturen des Kreml kann uns heute nicht mehr nur besorgt machen, sondern er muss echte Konsequenzen haben", sagte Fraktionschefin Katrin Göring-Eckardt. Merkel hatte noch am Dienstag gesagt, dass sie das Projekt vollenden möchte.
(mss/dpa)
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