Schwarz-Grün könnte die Regierung der Zukunft sein. In Sachen Flüchtlingspolitik sind sich die beiden Parteien allerdings uneins - und das könnte in Hinblick auf die aktuelle Situation an der griechisch-türkischen Grenze ein Problem werden.
Schwarz-Grün gilt vielen als die kommende Regierungskoalition. Doch die Unruhen an der griechisch-türkischen Grenze machen eine wichtige Trennlinie zwischen den beiden Parteien deutlich sichtbar. Scheitern schwarz-grüne Träume an der neuen Migrationskrise? Welche Probleme zwischen den beiden Parteien stehen:
Problemfeld 1: Unterschiedliche Grundpositionen
Programmatisch gibt es in Bezug auf den Umgang mit Flüchtlingen und Migranten große Unterschiede zwischen Union und Grünen. Beispielsweise fordert die grüne Bundestagsfraktion die "Beseitigung von Integrationshemmnissen wie die Restriktionen beim Familiennachzug". Dazu müssten Gesetze wieder aufgehoben werden, die die Große Koalition eigens zur Bewältigung der Flüchtlingskrise geschaffen hat: Seit August 2018 ist der Zuzug von "Mitgliedern der Kernfamilie" im neuen § 36a des Aufenthaltsgesetzes (AufenthG) auf monatlich 1.000 Personen begrenzt.
Müssen solche programmatischen Gegensätze bei Koalitionsverhandlungen eine Rolle spielen? Nicht unbedingt, meint der Parteien- und Wahlforscher Oskar Niedermayer im Gespräch mit unserer Redaktion. "Solange kein konkretes Handeln erforderlich ist, kann man das tiefhängen." Bisher habe die Politik das Flüchtlingsproblem verdrängt und gehofft, dass sich Verhältnisse wie im Sommer 2015 nicht wiederholen würden. Je größer jedoch der Andrang neuer Flüchtlinge wird, desto heftiger würde eine mögliche schwarz-grüne Koalition über die Konsequenzen streiten.
Problemfeld 2: Wie stark sind die Grünen?
Indirekt birgt die neue Flüchtlingskrise weiteren Sprengstoff. Sehe man sich die Parteiprogramme von CDU und Grünen an, so der Parteienforscher, ergäben sich weitere "Hauptkonfliktlinien" – etwa die Haltung zu sozialer Gerechtigkeit und zur inneren Sicherheit. "All diese Konflikte würden sich bei einer Eskalation des Migrationsthemas zuspitzen, weil sie in Zusammenhang mit dem Flüchtlingsproblem stehen oder von den Wählern so wahrgenommen werden."
Niedermayer meint, dass Corona-Epidemie und Flüchtlingskrise außerdem "die Relevanz der Umweltpolitik dämpfen". Während die Grünen derzeit von großer Zustimmung zu ihrer Klimapolitik profitieren, könnten neue Themen die Wähler zu anderen Wahlentscheidungen führen und die Grünen schwächen.
Problemfeld 3: Unruhe in der Union
In der Geschlossenheit der Union sieht der Politikwissenschaftler eine der wichtigsten Voraussetzungen für die nächsten Bundestagswahlen. Ob die CDU aber zu einer einheitlichen Haltung in der Migrationsfrage kommt, ist derzeit nicht absehbar. Entscheidend dürfte die Wahl des neuen Parteivorsitzenden auf einem Sonderparteitag im April werden. Doch ob in der Union Ruhe einkehrt, steht auch dann noch nicht fest: Der im April gewählte Kandidat muss sich im Dezember 2020 auf dem turnusgemäßen Parteitag erneut zur Wahl stellen – Problemfeld 3 wird also noch lange offenbleiben.
Problemfeld 4: Wer wird neuer CDU-Vorsitzender?
Noch vor kurzem hat niemand mit neuen Flüchtlingsproblemen gerechnet und so ist es kaum aufgefallen, dass sich im Kampf um den Parteivorsitz bei der CDU auch ein in Migrationsfragen recht ungleiches Paar zusammengetan hat. Die Rede ist von
Ob und wie die beiden sich einigen, ist unklar. Klar ist dagegen die Positionierung von Friedrich Merz: "Wir können euch nicht aufnehmen", rief er Flüchtenden zu und warnt vor "Kontrollverlust" an den deutschen Grenzen. Keine gute Voraussetzung für Koalitionsverhandlungen mit den Grünen.
Problemfeld 5: Wann finden die nächsten Bundestagswahlen statt?
Wird die Regierungskoalition durchhalten bis zu den im Herbst 2021 geplanten Bundestagswahlen? Je mehr Zeit der GroKo bleibt, um die derzeitigen Probleme zu lösen, desto weniger wären nach den Wahlen mögliche neue Koalitionsgespräche von Flüchtlingsdiskussionen belastet. Sollte die Koalition schon früher und mitten in einer aufgeheizten Migrationsdebatte platzen, wäre das für Gespräche zwischen CDU und Grünen kaum förderlich.
Problemfeld 6: Wie positioniert sich die EU?
Das Vorgehen der EU ist mitentscheidend für die Lösung der derzeitigen Flüchtlingsfrage: Wie positioniert sie sich im Syrien-Krieg und im Streit zwischen der Türkei und Russland? Gelingt es ihr, einen einigermaßen gerechten EU-internen Lastenausgleich zu schaffen für Länder, die weiterhin bereit sind, Flüchtlinge aufzunehmen? Und lässt sich Recep Tayyip Erdogan mithilfe von weiteren Euro-Milliarden davon überzeugen, seine Grenzen wieder zu schließen?
"Auch in der EU ist zum Thema Migration in den letzten vier Jahren nicht viel passiert", sagt der Politologe Niedermayer, die Positionen seien sehr unterschiedlich. "Merkel will mehr Geld für Erdogan, andere wollen lieber die Grenzen schließen." Welche Lösung sich durchsetzen wird, ist offen – genauso wie die Frage, ob und wie die Haltung der EU das Flüchtlingsdilemma lindern kann.
Problemfeld 7: Was passiert in Syrien?
Ausgelöst hat die derzeitige Krise nicht Erdogans Öffnung der türkischen Grenzen, sondern seine aktive Rolle im Syrienkrieg. Erdogan will nicht nur die Rolle der Türkei als Regionalmacht im Nahen Osten festigen – er liegt dort auch im Clinch mit Wladimir Putins Machtstreben. Bisher sind die Vermittlungsversuche der EU wenig erfolgreich. Von der Entwicklung des Syrien-Krieges hängt es aber ab, wie sich die Flüchtlingskrise weiterentwickelt.
Erdogans Absichten und die Ereignisse in Syrien hält auch Niedermayer für "entscheidende Unwägbarkeiten" bei der Einschätzung der Lage im Flüchtlingskonflikt. Solange im Bürgerkriegsland Millionen in die Flucht getrieben werden, wird sich Europa nicht vor der Auseinandersetzung mit dem Problem der Kriegsflüchtlinge drücken können.
Wenn die Flüchtlingskrise "auch nur in Ansätzen" der Krise von 2015 ähnle, meint Oskar Niedermayer, "wird das zu einem Riesenproblem für die Politik". Und damit wohl auch für schwarz-grüne Träume in Deutschland.
Verwendete Quellen:
- Gespräch mit dem Parteien- und Wahlforscher Prof. Dr. Oskar Niedermayer. Niedermayer war Politikwissenschaftler an der Freien Universität Berlin.
- Gesetz über den Aufenthalt, die Erwerbstätigkeit und die Integration von Ausländern im Bundesgebiet (Aufenthaltsgesetz – AufenthG)
- Bündnis 90/Die Grünen Bundestagsfraktion: Integration, Migration & Flucht. Menschenrechte als Grundlage der Flüchtlings- und Integrationspolitik
- CDU: Regelwerk zur Migration
"So arbeitet die Redaktion" informiert Sie, wann und worüber wir berichten, wie wir mit Fehlern umgehen und woher unsere Inhalte stammen. Bei der Berichterstattung halten wir uns an die Richtlinien der Journalism Trust Initiative.