Eine neue Flüchtlingskrise bahnt sich an. Der türkische Präsident hat seine Drohnung wahrgemacht und die Grenze zur EU für Migranten geöffnet. Steht Europa eine ähnliche Situation wie 2015 bevor? Zwei Experten vergleichen die Lage.
Offene Grenzen, Willkommenskultur, volle Flüchtlingsboote: Vielen sind die Bilder aus dem Jahr 2015 noch präsent. Nachdem der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan nun die türkischen Grenzbeamten anwies, Flüchtlinge nicht länger von der Ausreise abzuhalten, werden Erinnerungen wach. Erleben wir eine ähnliche Situation wie 2015? Die Migrationsexperten Olaf Kleist und Jochen Oltmer vergleichen im Interview die beiden Lagen.
2015 drängten innerhalb kürzester Zeit Hunderttausende Flüchtlinge in die EU. Wiederholt sich die Situation gerade?
Olaf Kleist: Nein, ganz offensichtlich nicht. Die Situation ist eine völlig andere und die Zahlen werden nicht vergleichbar sein. 2015 haben wir das Resultat einer jahrelangen Vernachlässigung von humanitärer Hilfe in der Region erlebt. Inzwischen dauert die Krise seit vielen Jahren an. Weltweit leben die meisten Flüchtlinge in der Türkei. Sie haben sich aber inzwischen auf die Situation eingestellt – die wenigsten wollen überhaupt nach Europa kommen.
Jochen Oltmer: Man kann die Situation heute nicht mit 2015 vergleichen. Wir haben heute in Süd-Ost-Europa und darüber hinaus in einem wesentlich stärkeren Maße Grenzkontrollen und Grenzsperren. 2015 konnten sich Menschen mehr oder minder ohne größere Kontrollen Richtung Deutschland oder Schweden bewegen, diese Situation haben wir heute nicht mehr. Jeder einzelne Staat auf dem Weg kontrolliert inzwischen massiv und immobilisiert Menschen.
Traurige Gemeinsamkeit zur Flüchtlingskrise 2015
Trotzdem ist das Flüchtlingsthema wieder auf der europäischen Tagesordnung. Gibt es denn auch Gemeinsamkeiten zur damaligen Situation?
Kleist: 2015 ist im Prinzip nicht vorbei. Wir erleben jetzt das Versagen Europas, mit der Situation von damals angemessen umzugehen. Der EU-Türkei-Deal war ein Versuch, sich Zeit zu kaufen, indem man die Türkei dafür bezahlt, dass sie ihre Grenzen dicht macht. Der vereinbarte Teil über die Rücknahmen hat nie wirklich funktioniert, aber die Türkei verhinderte rechtswidrig die Ausreise von Flüchtlingen. Die EU hat es nicht geschafft, die erkaufte Zeit zu nutzen, um eine eigene vernünftige Asylpolitik auf die Beine zu stellen. Wir sehen also jetzt vor allem eine Fortsetzung der versagenden Flüchtlingspolitik.
Oltmer: Traurige Gemeinsamkeit: Es gibt immer noch keine europäische Perspektive, um zu einer Verantwortungsteilung zu kommen. Wir haben immer noch ein Dublin-System, welches Ungerechtigkeiten in Europa schafft, ein Verteilungsmechanismus fehlt weiterhin.
Bilder von griechischen Beamten, die Tränengas und Blendgranaten einsetzen, gehen um die Welt. Ist die Situation noch krasser als 2015?
Kleist: Seit Jahren warnen Menschenrechtler davor, was an den Grenzen passiert. 2015 versagte der Staat vor allem durch eine völlige Abwesenheit. Auf die Offenheit folgte eine Überreaktion, die durch reine Brutalität, Schließen der Grenzen und dem Festhalten von Flüchtlingen gekennzeichnet ist. Beides ist eine verfehlte Flüchtlingspolitik. Die Situation in den Flüchtlingslagern ist dramatisch, ehemalige Helfer haben sich mittlerweile gegen die Flüchtlinge gewandt – geben aber klar der EU die Schuld.
Oltmer: 2015 waren wesentlich mehr Menschen unterwegs und auch damals gab es humanitäre Krisen an vielen Punkten. Jetzt sprechen wir höchstens über einige Zehntausende Menschen. Die Konstellation ist 2020 explizit durch Immobilisierung gekennzeichnet – an der syrisch-türkischen und türkisch-griechischen Grenze sind Hunderttausende Menschen gefangen. Ein Vergleich, was krasser ist, ist daher nicht möglich.
Haben die Grenzbeamten oder Frontex denn ihr Vorgehen geändert?
Kleist: Frontex unterstützt als Hilfsagentur derzeit in der Ägäis den griechischen Grenzschutz. Dabei sehen wir brutale Push-Backs, Kollektivausweisungen und Versuche, Flüchtlingsboote am Landen zu hindern. Gerade erst ist dabei ein Kind ums Leben gekommen. Das ist schon eine ganz andere Qualität, als das noch vor fünf Jahren der Fall war. Es ist ein großes Problem, wenn die EU meint, mit reiner Gewalt eine Migrationspolitik machen zu können, bei der die Rechte der Betroffenen keine Rolle mehr spielen. Das sendet fatale Signale nach Innen in die EU.
Oltmer: Frontex ist immer noch kein ernstzunehmender Faktor der europäischen Grenzsicherung, auch wenn es inzwischen einen erheblichen Kapazitätsausbau gab. Es ist wichtig als Koordinations- und Informationsinstanz, aber nicht bei konkreten Maßnahmen an Grenzen. Anders als 2015 sind Grenzkontrollen - und zwar in nationaler Verantwortung - heute aber das zentrale Instrument von Migrationspolitik.
Als Merkel 2015 ähnliche Bilder an der österreichisch-ungarischen Grenze sah, ließ sie die Menschen nach Deutschland weiterreisen. Ist eine solche Reaktion wieder zu erwarten?
Kleist: Nein, ich sehe momentan nicht, dass die Bundesregierung bereit ist, von sich aus Flüchtlinge aufzunehmen. Es gibt in Europa viele Städte, die Flüchtlinge aufnehmen wollen. Es handelt sich jedoch nur um einige Hundert - das reicht zahlenmäßig nicht aus. Es wäre notwendig, dass europäische Regierungen hier einen Schritt nach vorne machen und sagen, dass sie Flüchtlinge aufnehmen. Und zwar nicht nur aus Griechenland, sondern auch von der türkischen Grenze. Das wäre das Einzige, womit die EU in der Lage wäre, dem Druck der Türkei den Wind aus den Segeln zu nehmen. Es bleibt abzuwarten, ob sich politische Vernunft und humanitäre Politik zeigen.
Oltmer: Wir erleben in der öffentlichen Diskussion eine starke Personalisierung – die Kanzlerin hat 2015 dies gemacht oder jenes nicht gemacht. Die Ereignisse damals sind aber wesentlich komplexer gewesen und sollten nicht so stark personalisiert werden. Dennoch: Heute winkt niemand durch - denn es ist klar, dass ein Durchwinken an irgendeiner Grenze bedeuten würde, dass die Menschen im eigenen Land bleiben. Griechenland kann nicht davon ausgehen, dass Europa einspringen wird. Jeder Staat muss damit rechnen, dass er allein gelassen wird. Das macht einen großen Unterschied aus.
Deutschländ wäre besser vorbereitet als 2015
Wäre Deutschland denn besser auf die Flüchtlinge vorbereitet als 2015?
Kleist: Ja, auf jeden Fall. Wir habe noch viele Kapazitäten im lokalen Raum. Daher wären Notunterkünfte nicht mehr wie 2015 notwendig. Es gibt auch immer noch viele Ehrenamtliche, die sich für Geflüchtete engagieren. Man sollte vorsichtig sein mit der Warnung, 2015 dürfe sich nicht wiederholen. Denn das Jahr war eine Sternstunde, die nun im Nachhinein umgedeutet wird. Wenn die Politik aber jetzt so weitermacht, wird 2015 noch nachträglich zu einer Schande für Europa.
Oltmer: Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) war damals nicht in der Lage Flüchtlinge zu registrieren, Asylanträge zu bearbeiten und Verfahren durchzuführen. Die Behörde ist heute ganz anders aufgestellt und hat zehntausend Mitarbeiter. Die Infrastrukturkrise wurde von Ehrenamtlichen aufgefangen, viele davon stünden auch heute zur Verfügung.
Aber kommen nicht jetzt – im Vergleich zu 2015 – die schlechter gebildeten Menschen, womit die Integrationsaufgabe also eine noch größere wäre?
Kleist: Es kommen nun vor allem diejenigen, die 2015 noch in Syrien waren. Die Menschen fliehen auch aus Afghanistan, denn sie bekommen in der Türkei gar keinen Schutzstatus. Es hat weniger mit den individuellen Eigenschaften der Menschen zu tun, sondern vielmehr mit den äußeren Umständen, die die türkische Politik geschaffen hat. Das sind aufflammende Kämpfe in Syrien, aber auch der mangelnde Schutz für nicht-syrische Flüchtlinge in der Türkei. Für sie ist es häufig der einzige Ausweg, nach Europa zu kommen.
Als 2015 die Flüchtlinge nach Deutschland kamen, wurden sie teilweise freudig an den Bahnhöfen empfangen. Wäre eine solche Willkommenskultur wieder zu erwarten?
Kleist: Nein, ich denke nicht. Aber sie war auch 2015 in dem Maße nicht zu erwarten. So etwas lässt sich nicht einfach reproduzieren. Ein wesentlicher Grund, warum die Gesellschaft so offen war Flüchtlinge aufzunehmen und ihnen zu helfen, war, dass die Bundesregierung entsprechende Signale gesendet hat. Sie hat vermittelt: Wir sind ein Land, das rechtlich und moralisch verpflichtet ist, Flüchtlingen zu helfen. Das hat viele motiviert. Heute sehen wir diese Signale so gut wie gar nicht mehr.
Oltmer: Die Aufnahmebereitschaft der Deutschen ist bis in den Herbst 2015 sehr hoch gewesen, aber bereits kurz danach deutlich gesunken. Die Debatte wurde fortan zunehmend unter dem Fokus Sicherheit geführt - mit Perspektiven wie Terrorismus und Kriminalität. Das Bild eines Kontrollverlustes hatte sich damals durchgesetzt. Wenn heute Deutschland einige Tausend Menschen etwa von den griechischen Inseln aufnehmen würde, könnte niemand von einem solchen Kontrollverlust sprechen.
Kurz: "Erdogan benutzt die Menschen als Waffe gegen die EU"
"Die EU darf das Spiel der Türkei nicht mehr mitspielen"
Wie sollte Deutschland reagieren, worauf müssen wir uns einstellen?
Kleist: Die EU darf das Spiel der Türkei nicht mehr mitspielen und sich von ihr unter Druck setzten lassen. Es gibt Umfragen in der Türkei die nahelegen, dass der Großteil der Flüchtlinge kein Interesse daran hat, nach Europa zu kommen. Trotzdem müssen wir uns aus der misslichen Lage, in die uns der EU-Türkei-Deal gebracht hat, befreien und deshalb sollte Deutschland Flüchtlinge an den Grenzen aufnehmen. Gleichzeitig müssen wir Druck auf Länder ausüben, die sich einer gemeinsamen europäischen Flüchtlingspolitik verwehren. Deutschland muss wieder vorangehen und sagen: Wir stehen ein für Grundrechte in Europa.
Oltmer: Wir haben es mit einer sehr komplexen Situation zu tun, viele unterschiedliche Akteure bringen unterschiedliche Interessen ein. Es gibt deshalb keine einfache und schnelle Lösung. Der EU-Türkei-Deal wurde 2016 als eine solche Lösung verkauft – funktioniert hat er nicht. Wir reden seit vielen Monaten über die Situation auf den griechischen Inseln, aber es ist wenig bis nichts passiert. Europa und Deutschland schauen zu und hoffen, dass Griechenland es schon irgendwie bewerkstelligen wird. Besonders schutzbedürftigen Menschen sollte durch Aufnahme in Deutschland oder anderen Staaten geholfen werden. Die vielbeschworene Koalition der Willigen sollte endlich zusammenkommen. Eine Reform des Dublin-Abkommens muss dringend vorangetrieben werden, die aktuelle Situation könnte vielleicht ein Weckruf sein.
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