Die israelische Demokratie ist durch die Reformpläne der rechten Regierung unter Benjamin Netanjahu gefährdet, glaubt Volker Beck, Präsident der Deutsch-Israelischen Gesellschaft (DIG). Gleichzeitig sei die Kritik am jüdischen Staat häufig überzogen und obsessiv. Das habe auch mit der deutschen Geschichte zu tun, sagt Beck im Interview.
Im Dezember 2022 bildete der israelische Langzeit-Premierminister
Herr Beck, was bedeutet es in diesen Tagen, ein Freund Israels zu sein?
Volker Beck: Es bedeutet zum einen, ein Freund des zionistischen Projekts zu sein, also des jüdischen und demokratischen Staates. Zum anderen heißt es, dass wir uns gegen all diejenigen wenden, die dieses Projekt delegitimieren, die seine Sicherheit und seine Existenz angreifen. An dieser Aufgabenstellung hat sich seit der Unabhängigkeit Israels vor 75 Jahren nichts verändert.
Und mit Blick auf die neue Regierung?
Aktuell machen sich auch viele in der DIG Sorgen um die Pläne der israelischen Regierungskoalition zur Beschränkung der Justiz. Wir sehen darin einen Angriff auf die Gewaltenteilung und Unabhängigkeit der Justiz.
Ende Juli passierte der erste Teil der Justizreform das israelische Parlament, die Knesset. Demnach darf das Oberste Gericht keine Regierungsentscheidungen mehr wegen "Unangemessenheit" kippen. Was heißt das für die israelische Demokratie?
Zunächst wird es im Herbst vor dem Obersten Gericht die endgültige Anhörung zu dem Gesetz geben. Wenn das Gericht entscheidet, dass das Gesetz verfassungswidrig ist, ist die Frage, ob die Regierung und die Mehrheit der Knesset das anerkennt. Tut sie das nicht, kommt es zu einer tiefgreifenden Verfassungskrise. Besorgniserregend sind auch die nächsten geplanten Schritte: Künftig sollen die Richter des Obersten Gerichts per einfacher Knesset-Mehrheit gewählt werden können. Dann würden die Kontrollierten ihre eigenen Kontrolleure bestimmen.
Volker Beck: Israel wird andauernd kritisiert
Israel wird immer häufiger in einem Atemzug mit Ungarn genannt, wo die Aushöhlung des Rechtsstaats weit fortgeschritten ist. Wie gut passt die Analogie?
Sollte die israelische Regierung all ihre Ideen umsetzen, wäre das schon sehr nahe an der Situation in Ungarn. Es gibt in Israel auch Pläne, den Medienbereich zum Vorteil der Regierung umzubauen. Aber der große Unterschied zu Ungarn ist, dass in Israel jeden Samstagabend ein Zehntel der Bevölkerung auf den Straßen demonstriert. Auf Deutschland hochgerechnet wären das acht Millionen Demonstranten, die die Demokratie und den Rechtsstaat verteidigen. Das ist unheimlich beeindruckend und zeugt von der Lebendigkeit der israelischen Demokratie.
Bekannte Vertreter der israelischen Oppositionsbewegung fordern die Bundesregierung immer wieder auf, den Ton gegenüber Israel zu verschärfen. Verurteilen deutsche Minister Netanjahus Regierung zu wenig?
Das müsste man mal statistisch auswerten. Ich glaube, Israel rangiert bei den kritischen Pressemitteilung des Auswärtigen Amts relativ weit oben. Dafür, dass das ein kleines Land mit acht Millionen Menschen ist, erscheint mir das überproportional. In den Medien ist das ohnehin so. Trotzdem gibt es Leute, die ihre Israelkritik immer mit dem Satz anfangen, dass man Israel angeblich nicht kritisieren dürfe. Das ist Quatsch. Es wird andauernd getan. Wenn man die "Spiegel"-Ausgaben mit Israel auf der Titelseite übereinanderstapelt, würden sie bis zur Decke reichen. Man müsste einmal fragen, woher dieser Mythos überhaupt kommt, dass man Israel in Deutschland nicht kritisieren darf.
Woher kommt er Ihrer Meinung nach?
Bei Israel kochen in Deutschland die Emotionen hoch, und das hat mit unserer Geschichte zu tun. In nicht wenigen Familien waren die Väter Nazis und die Kinder überzeugte Linke oder Liberale. Bei der "Israelkritik" kommt die Familie auf einmal wieder versöhnt zusammen. Natürlich wollte nach dem Holocaust niemand mehr ein Antisemit sein, die eigene Geschichte wurde aber nie richtig aufgearbeitet. Das zeigt sich auch heute noch an der Obsession mit dem jüdischen Staat. Denn wenn man sich gegen besetzte Gebiete wendet, wofür ich großes Verständnis habe, dann müsste man sich auch um die Westsahara kümmern. Wo sind die Initiativen und Proteste zur Unterstützung der Polisario (Bewegung zur Befreiung der Westsahara von Marokko, Anm. d. Red.)? Ich selbst war einmal in der Westsahara, viele Deutsche habe ich dort nicht getroffen.
Die jüdisch-amerikanische Philosophin Susan Neiman, die einige Jahre in Israel lebte, kommt zur genau entgegengesetzten Einschätzung: Die Deutschen hätten ein "schlechtes Gewissen wegen des Nazi-Opas" und daher "eine unglaubliche Angst, nur einen kritischen Satz zu Israel zu sagen", sagte sie vergangene Woche im Interview mit der Frankfurter Rundschau.
Dass es in Deutschland ein Israel-Syndrom gibt, das mit dem Nazi-Opa zu tun hat, sehe ich auch so. Es lebt sich nur ganz anders aus, als Neiman das glaubt. Man muss ja nur mal sehen, wie diejenigen bejubelt werden, die sich als Juden oder als Israelis schon seit Jahren, auch vor der aktuellen Regierung, kritisch gegenüber Israel geäußert haben. Die konnten sich vor Interviewanfragen doch gar nicht retten. Auch das Interview mit Susan Neiman hatte die Funktion, eine Jüdin aussprechen zu lassen, was man in Deutschland so gerne hören will: "Ich gebe euch meinen Segen, Israel so zu kritisieren, wie ihr es ohnehin schon die ganze Zeit tut."
Neimans Diagnose, in Deutschland dürfe man Israel nicht kritisieren, ist also schlicht falsch?
Ja, natürlich. Das ist schon fast wahnhaft, das ist kontrafaktisch.
Sie erzählt von "persönlich diffamierender Kritik", die sie in Deutschland erlebt habe, weil sie Israel kritisch gegenüber eingestellt sei. Wie erklären Sie sich diese Erfahrung?
Wer hat keine persönlich diffamierende Kritik erfahren, der sich heute politisch positioniert? Ich finde keine Diffamierung okay und die Sitten in Internet-Debatten sind wirklich verroht. Aber zu sagen, davon sind wir jetzt besonders betroffen und die anderen nicht, das kann ich nicht bestätigen. Ich persönlich habe Diffamierung sogar schon von dem politischen Freundeskreis von Susan Neiman erlebt.
Wie könnte denn ein ausgewogenes Kritisieren der aktuellen israelischen Regierung aussehen?
Es braucht zunächst klare Prioritäten: Die Sicherheit und die Existenz Israels sind nicht verhandelbar. Das ist deutsche Staatsräson, wie es die ehemalige Bundeskanzlerin Angela Merkel ausdrückte. Dementsprechend muss auch agiert werden, etwa in den Vereinten Nationen, oder wenn es um das deutsche Verhältnis zum palästinensischen Terror geht. Und da gab es in letzter Zeit einiges Kritikwürdiges. Zudem ist in der Vergangenheit Israel zu routiniert und kriterienlos kritisiert worden. Jeder Stein, der in einer Siedlung in der Westbank gebaut wurde, war dem Auswärtigen Amt eine Pressemitteilung wert. Stattdessen sollte man sich auf die Punkte konzentrieren, die wirklich wichtig sind. Dann kann man auch mal Tacheles reden, und dann wird man auch gehört. Derzeit wäre das durchaus nötig: Israel droht, die gemeinsame Wertebasis mit Deutschland zu verlassen.
Nur reden? Oder gibt es noch andere Mittel, mit denen Deutschland Druck auf Netanjahu und seine Regierung ausüben könnte?
Ich bin kein Anhänger der Schwarzen Pädagogik. Man sollte vor allem gucken, was man der anderen Seite anbieten kann. Derzeit ist das allerdings nicht besonders viel. Deutschland ist für Israel zwar politisch wichtig, aber in seiner Bedeutung weit entfernt von der USA. Deshalb sollten wir uns auch nicht in eine starke Position hineinfantasieren, die wir einfach nicht haben. In der politischen Klasse in Deutschland beobachte ich mittlerweile eine beängstigende Verzerrung der Selbstwahrnehmung. Als ob alle Welt auf uns wartet und wir überall gebraucht würden. Da tut dringend mehr Realismus Not: Derzeit brauchen wir das "Arrow 3"-Raketenabwehrsystem von Israel und nicht umgekehrt.
Sie bekunden öffentlich deutliche Sympathien für die Oppositionsbewegung in Israel. Das ist in der DIG umstritten.
Selbstverständlich gibt es bei uns auch Stimmen, die sagen, wir sollen da schweigen. Wir sollten nicht die notorischen Israelkritiker füttern. Und klar: Ich bin da auch zerrissen. Mit manchen Stimmen will ich mich nicht gemein machen. Ich denke aber, bei der Frage von Demokratie und Menschenrechten kann man als Demokrat nicht schweigen. Ich habe das bei anderen Ländern auch nicht getan. Verdächtig ist aber, wenn man sich ausschließlich bei Israel zu Wort meldet.
In dieser Gemengelage kann man es offenbar kaum jemandem recht machen. Wie viel Spaß macht Ihnen das Amt des DIG-Präsidenten noch?
Es gab leichtere Situationen als Israelfreund, das will ich offen sagen. Zuweilen ist es schon sehr anstrengend, aber es ist eben nicht der Vorsitz irgendeiner deutsch-ausländischen Freundschaftsgesellschaft. Es war nie einfach, weil in Deutschland beim Thema Israel Identitäts- und Geschichtsfragen mitverhandelt werden. Nun kommt die Schwierigkeit hinzu, dass mit der neuen Regierung in Jerusalem der Charakter Israels auch von innen her infrage gestellt wird.
Würden Sie auch ein Freund Israels bleiben, sollte Netanjahus Koalition alle ihre Pläne tatsächlich umsetzen?
Selbstverständlich bleibe ich ein Freund Israels. Nicht unbedingt von jedem Gesetz und jedem Regierungsmitglied. Aber die deutsch-israelische Freundschaft war nie nur ein Projekt von Regierungskoalitionen, und das darf sie auch nicht werden. Das ist eben auch eine Frage unserer historischen Verantwortung. Und es ist Ausdruck unserer Empathie, unsere Freunde in der israelischen Demokratiebewegung nicht allein zu lassen.
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