• In Berlin ist der neue Bundestag zur konstituierenden Sitzung zusammengekommen.
  • Die SPD-Politikerin Bärbel Bas wurde zur Präsidentin gewählt.
  • Lars Rohwer (CDU) und Melis Sekmen (Grüne) gehören zu den 281 Abgeordneten, die erstmals Mitglied des Parlaments sind. Unsere Redaktion hat sie an diesem Tag begleitet.

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Lars Rohwer konnte sich schon vertraut machen mit dem Zentrum der Macht. Zwei Tage nach der Bundestagswahl kam die neue CDU/CSU-Fraktion das erste Mal im Plenarsaal des Bundestags zusammen.

Für den frischgebackenen Abgeordneten war das der erste Gang durch die Reihen mit den blauen Stühlen. "Das ist ein Gefühl – da wedelt’s einen erstmal", sagt Rohwer. Er ging zunächst in die vorletzte Reihe. "Ich musste erstmal Platz nehmen, erstmal ankommen."

Lars Rohwer: Von der Landes- in die Bundesliga

Am Dienstagvormittag ist er endgültig angekommen. Genau einen Monat nach der Wahl kommen die 736 Mitglieder des neuen Bundestages zur konstituierenden Sitzung zusammen. Ein feierlicher Akt. Der Auftakt in eine vierjährige Legislaturperiode, in der sich das Land wahrscheinlich verändern wird.

Lars Rohwer ist Bundestagsneuling, auch wenn er Parlamentserfahrung mitbringt. Der Dresdner war bisher Landtagsabgeordneter in Sachsen. Trotzdem ist dieser Tag für ihn etwas sehr Besonderes. Ehrfurcht, Vorfreude, Nervosität – von allem ist etwas dabei, als er am Dienstag vor dem Reichstag steht. "Ich komme jetzt sozusagen von der Landes- in die Bundesliga", sagt Rohwer. "Da ist man noch einmal anders gefordert."

Melis Sekmen: Arbeiterkind im Parlament

Mehr als jeder dritte Abgeordnete des 20. Bundestages ist neu im Parlament. Die deutsche Volksvertretung ist im Schnitt jünger und vielfältiger geworden. Melis Sekmen zum Beispiel ist über die baden-württembergische Landesliste der Grünen in den Bundestag eingezogen – mit 28 Jahren gehört sie zu den 50 Abgeordneten unter 30.

Sekmen ist Spross einer Familie türkischer Gastarbeiter, ihr Großvater kam einst für die Arbeit im Benz-Werk nach Mannheim. "Ich definiere mich als Kind meiner Stadt Mannheim und als Kind aus einer Arbeiterfamilie. Meine Herkunft hat mir immer geholfen, über den Tellerrand hinauszuschauen", sagt Sekmen. Sie findet es wichtig, viele verschiedene Perspektiven in die Politik einzubringen. "Je mehr Perspektiven es sind, desto erfolgreicher sind auch unsere Entscheidungen."

AfD dominiert die erste Stunde

Als Wolfgang Schäuble Mitglied des Bundestages wurde, war Melis Sekmen noch lange nicht auf der Welt. Der scheidende Bundestagspräsident ist seit unglaublichen 49 Jahren Parlamentarier und eröffnet als Alterspräsident am Dienstag um 11 Uhr die konstituierende Sitzung.

Im Plenarsaal sind die Reihen zu diesem Zeitpunkt proppenvoll. Ein ungewohntes Bild nach anderthalb Jahren Corona-Pandemie. Die Abgeordneten schießen fleißig Selfies und suchen fraktionsübergreifend das Gespräch mit den Kolleginnen und Kollegen. Die Bundeskanzlerin ist nur Zuschauerin. Sie verfolgt den Anbruch der Nach-Merkel-Ära von der Besuchertribüne aus.

Im Plenum ist an diesem Tag wieder Nähe zugelassen – allerdings nur für Abgeordnete, die genesen, geimpft oder getestet sind. Wer da nicht mitmachen will, kann auf einer Besuchertribüne Platz nehmen. Ein Angebot, von dem einige AfD-Abgeordnete Gebrauch machen.

Die AfD-Fraktion ist zwar um elf Abgeordnete geschrumpft, dominiert aber die erste Stunde dieser neuen Legislaturperiode. Mit mehreren Anträgen bringt sie die anderen Fraktionen gegen sich auf. Sie will Gendersprache im Parlament verbieten lassen und kritisiert die Benennung des Alterspräsidenten. Es wird stellenweise laut und hitzig. Dass der Ton im neuen Bundestag ein anderer wird als in der vergangenen Legislaturperiode, erscheint bei diesem Auftakt unwahrscheinlich.

Mit Bärbel Bas eine Frau an der Spitze

Allerdings werden zum Teil andere Personen im Präsidium die Geschicke des Parlaments leiten. Von der Besuchertribüne aus verfolgen die frühere Bundestagspräsidentin Rita Süßmuth und Sabine Bergmann-Pohl, Präsidentin der freigewählten DDR-Volkskammer, wie erstmals seit 23 Jahren wieder eine Frau an die Spitze des Bundestags gewählt wird.

Die SPD-Abgeordnete Bärbel Bas hat einen beachtlichen Weg zurückgelegt. Hauptschulabschluss, später Karriere bei einer Betriebskrankenkasse und Studium. Im Parlament hat sie sich durch Fleiß und Kollegialität Respekt erarbeitet, ohne dabei ins grelle Rampenlicht der Öffentlichkeit zu drängen. Mit 576 von 724 Stimmen wird sie zur neuen Bundestagspräsidentin und damit ins zweithöchste Amt des Staates gewählt. Bas zur Seite stehen werden künftig vier Vizepräsidentinnen und nur ein Vizepräsident. Das sind wahrlich neue Zeiten.

Ein wenig gerührt, doch vor allem mit großer Gelassenheit und klaren Ansagen übernimmt Bärbel Bas das Amt. Sie gibt den Abgeordneten mit auf den Weg, sich um die Mitte der Gesellschaft zu kümmern. Gerade auch um diejenigen, die nicht laut in sozialen Medien oder bei Demonstrationen auf sich aufmerksam machen. "Ich erwarte Respekt für die Bürgerinnen und Bürger", sagt Bas. Aber sie erwarte andersherum auch Respekt der Bevölkerung für das Parlament.

Eine ziemlich teure Volksvertretung

Die nächsten vier Jahre werden für die Abgeordneten auch ein Kampf gegen Vorbehalte: Der Bundestag ist so groß wie nie – die Volksvertretung kostet die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler rund eine Milliarde Euro im Jahr. Wolfgang Schäuble drängt in seiner Ansprache noch einmal auf eine Reform, die den Bundestag verkleinert. Eine Aufgabe, die bisher maßgeblich an seiner eigenen Fraktion gescheitert ist.

Auch Lars Rohwer kennt die Vorbehalte und Vorurteile gegenüber der Politik zur Genüge. Er will in den kommenden Jahren klar machen, dass er mit Zielen und Vorstellungen nach Berlin geht – und gewillt ist, diese Vorstellungen auch umzusetzen. Der Christdemokrat hat den Wahlkreis Dresden II/Bautzen II mit einem legendär knappen Vorsprung von 35 Erststimmen vor der AfD gewonnen. "Ich möchte in meine Wahlkreisarbeit auch diejenigen einbinden, die mich nicht gewählt haben", sagt er.

Für den einen Opposition, für die andere Regierung

Vor den 736 Abgeordneten liegen sehr unterschiedliche Aufgaben. Lars Rohwer war es bisher gewohnt, in der Regierung Politik zu machen. "Oppositionsarbeit ist für mich etwas völlig Neues." Doch er freue sich darauf. "Es geht jetzt darum, bessere Konzepte auf den Tisch zu legen als die Regierung."

Für Melis Sekmen fällt der Amtsantritt in Berlin dagegen mit den Koalitionsverhandlungen zusammen: Die Grünen könnten mit SPD und FDP die erste Ampel-Koalition auf Bundesebene schmieden. "Wir haben eine sehr anstrengende Wahlkampfphase hinter uns, die direkt in die Arbeitsphase übergegangen ist." Sie war bereits an den Vorbereitungen des Sondierungspapiers beteiligt. Noch dazu muss sie sich mit den kleinen und großen Dingen des parlamentarischen Alltags vertraut machen: Abläufe und Orte kennenlernen, Mitarbeitende für ihr Abgeordnetenbüro finden.

Jetzt beginnt die Arbeit

Ein großes Thema wird wohl beide Abgeordnete in den nächsten vier Jahren beschäftigen: der Klimawandel. Melis Sekmen will sich dafür einsetzen, dass Start-ups und mittelständische Unternehmen einen guten Rahmen bekommen, um Klimaschutz und digitalen Wandel mit Innovationen umzusetzen.

Auch Lars Rohwer treibt der Umbau der Wirtschaft um. "Zu meinem Wahlkreis gehört ein Teil des Kreises Bautzen, wo der Strukturwandel jetzt vor der Tür steht", sagt er. "Der Klimawandel findet statt, aber wir können ihn nicht zurückdrehen. Wir müssen uns darauf einstellen und aufpassen, dass er nicht noch mehr durch die Decke geht", sagt Rohwer. Er will sich für eine "schlüssige Energiepolitik" einsetzen – aber er weiß, dass das eine langfristige Aufgabe ist. "Das wird nicht in vier Jahren zu schaffen sein."

Vom Soziologen Max Weber stammt der Satz: "Politik bedeutet ein starkes langsames Bohren von harten Brettern mit Leidenschaft und Augenmaß zugleich." Für die Bundestagsabgeordneten hat dieses Bohren spätestens an diesem Tag begonnen.

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