• Erst Corona-Pandemie, jetzt Ukraine-Krieg: Die Ampel-Regierung muss seit Amtsübernahme eine Krise nach der nächsten managen.
  • "Eine nie dagewesene Situation", sagt Politikwissenschaftlerin Johanna Hornung. Sie analysiert die ersten 100 Tage der Ampel-Koalition.
  • Wer zeigte Präsenz, wer ging unter? "Scholz hat in jedem Fall überrascht", sagt die Expertin.
Eine Analyse
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Krisen hat es für neu amtierende Regierungen immer wieder gegeben. Als Nachkriegskanzler musste Konrad Adenauer die Bundesrepublik grundlegend aufbauen, als Helmut Kohl 1982 gewählt wurde, hielt die Ölkrise die deutsche Wirtschaft in Schach und Gerhard Schröder startete 1999 mit der Bürde des Kosovokrieges in sein Amt.

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Die Schonfrist für die Ampel-Koalition unter Olaf Scholz (SPD) war besonders kurz: Als Scholz im vergangenen Dezember den Staffelstab von Angela Merkel (CDU) übernahm, musste die Regierung bereits einen Start im Krisenmodus hinlegen. Kurz vor Amtsantritt hatte die Zahl der Corona-Toten die 100.000-Marke überschritten, fast zeitgleich stiegen die Infektionen mit der als besorgniserregend eingestuften Variante "Omikron" immer stärker an.

Keine Zeit für "Aufbruch"

Auch 100 Tage nach Start stehen die Zeichen auf Krise: Mit der russischen Invasion Ende Februar in die Ukraine ist der Krieg nach Europa zurückgekehrt. Statt innenpolitischem "Aufbruch" und der Umsetzung der klimapolitischen Ziele stehen für das Kabinett Scholz diplomatische Gespräche und Jahrhundertentscheidungen in der deutschen Außenpolitik auf dem Plan. Ein aufflammender Konflikt in Mali, Inflation und steigende Energiepreise tun ihr Übriges.

Auch Politikwissenschaftlerin Johanna Hornung sagt: "Die aktuelle Krisenlage ist etwas sehr Einmaliges. Eine Pandemie haben wir in so einer Form noch nie erlebt, die Situation in der europäischen Außenpolitik ist ebenfalls ohne Vergleich." Es handele sich damit um den härtesten Start einer neuen Regierung, den es jemals gegeben habe.

Keine klassische Bilanz

Eine klassische 100-Tages-Bilanz kann man aus Sicht der Expertin deshalb gar nicht ziehen. "Es ist aktuell noch sehr schwer zu beurteilen, wie es um die Leistung der Regierung steht – wir sind von einer Ausnahmesituation in die nächste geschwappt", erinnert sie. Das, was man nach 100 Tagen normalerweise tue – vorher festgelegte Ziele abzuklopfen, Koalitionsverträge auf ihre Umsetzung hin zu untersuchen – sei aktuell kaum möglich.

"Die zentralen Kriterien, an denen die Bevölkerung die Performanz der Regierung bemisst, sind die aktuell beherrschenden Themen", sagt Hornung. Dabei gelte: "In außenpolitischen Krisen tendieren Regierungen historisch betrachtet meist zu höheren Zustimmungswerten. Unabhängig davon, was am Ende an Erfolgen herumkommt", sagt sie.

Zustimmungswerte nehmen zu

Das zeigt sich auch aktuell. Zur Amtsübernahme startete Scholz laut ZDF-"Politbarometer" mit hohem Vertrauensvorschuss: 77 Prozent aller Befragten glaubten damals, dass Scholz seine Sache als Bundeskanzler eher gut machen wird. Mitte Januar waren dann 65 Prozent der Befragten mit der Arbeit des Bundeskanzlers zufrieden, vier Wochen später lag dieser Wert nur noch bei 56 Prozent.

Seit Ende Februar verzeichnet die Regierung allerdings einen deutlichen Aufwärtstrend. Inzwischen sind 75 Prozent der Meinung, die Regierung leiste gute Arbeit. Dabei stehen Gesundheits- und Außenpolitik im besonderen Fokus.

Zeugnis zur Pandemiebewältigung

"Mit Blick auf die Corona-Pandemie wird es nun noch einmal spannend, wenn jetzt Ende März die Lockerungen in Kraft treten", schätzt Expertin Hornung. In Deutschland sollen dann endgültig die meisten Corona-Maßnahmen wegfallen. Im "Politbarometer" finde das nur die Hälfte der Befragten richtig. "Die Auswirkungen dieser Entscheidung wird sicherlich maßgeblich ins Zeugnis zur Bewältigung der Pandemie einfließen", sagt Hornung.

Sicher dürfte dabei auch die Entscheidung über eine allgemeine Impfpflicht eine Rolle spielen. Die Regierung hatte keinen eigenen Gesetzentwurf eingebracht und sich damit den Vorwurf des Wegduckens eingehandelt. Koalitionsintern gab es nicht nur bei diesem Thema, sondern auch in puncto Corona-Lockerungen immer wieder Unstimmigkeiten.

Wer präsent war, wer unterging

Über das angekündigte Klimaschutz-Sofortprogramm, Sozialwohnungsbau, einen digitalen Aufbruch oder Kindergrundsicherung spricht derzeit kaum jemand. Auch Themen wie Cannabislegalisierung, Wahlreform oder Mindestlohn sind aus dem Fokus geraten. Was die Regierung aber schon auf ihrer Haben-Seite verbuchen kann: Der angekündigte Heizkostenzuschuss ist auf den Weg gebracht, außerdem ist der Weg frei für die Streichung des Paragrafen 219a sowie für die Abschaffung der EEG-Umlage.

Eng verknüpft damit ist die Präsenz der Ministerinnen und Minister in der Öffentlichkeit. "Entsprechend der dominierenden Themen hat sich Karl Lauterbach in der Corona-Pandemie besonders hervorgetan", sagt Expertin Hornung. Dabei musste der SPD-Politiker einen Rollenwechsel vom Mahner und Erklärer der Pandemie zum Handlungsverantwortlichen hinlegen. Zwischenzeitlich landete er auf Platz 2 der zehn wichtigsten Politiker des Landes.

Lauterbach besetzt neue Themen

"Auch, wenn jetzt andere Themen in den Fokus rücken, ist Lauterbach immer noch sehr präsent", sagt Hornung. Er sucht sich nun sogar teilweise neue Themen: "Er hat zuletzt beispielsweise eine massive Reduzierung des Fleischkonsums gefordert", sagt Hornung. Das zeige, dass Lauterbach innerhalb der Regierung wohl weiterhin in der ersten Reihe stehen werde.

Anders als andere Kabinettsmitglieder: "Sowohl Christian Lindner, als auch Robert Habeck, die zentrale Rollen bei den Koalitionsverhandlungen hatten, sind mittlerweile kaum noch im Licht der Öffentlichkeit", sagt Hornung. Das erkläre sich damit, dass ihre Ressorts gerade nicht besonders gefragt seien, es gäbe aber auch weitere Gründe: "Lindner kann vermutlich die aktuell expansive Ausgabenpolitik schlecht öffentlichkeitswirksam vermarkten, denn die FDP hat sich immer für eine Reduktion der Ausgaben starkgemacht", analysiert Hornung.

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Expertin: "Scholz hat überrascht"

Punkten konnte derweil eine andere Ministerin: Annalena Baerbock. Zum Regierungsstart hatten nur 37 Prozent im "Politbarometer" geglaubt, dass sie das Amt als Bundesaußenministerin "eher gut" machen werde. Zuletzt legte Baerbock in der Rangfolge der zehn wichtigsten Politiker des Landes allerdings den größten Sprung hin: Inzwischen liegt sie mit einem Wert von 1,4 (auf einer Skala von -5 bis +5) deutlich vor Christian Lindner, Cem Özdemir und Friedrich Merz.

"Überrascht hat besonders Kanzler Scholz selbst", sagt Politikwissenschaftlerin Hornung. Zwar handelte er sich zwischenzeitlich von der Opposition sogar den Vorwurf ein, er sei "abgetaucht", aber: "Scholz hat eine Führungsrolle übernommen, die ihm manche vorher vielleicht nicht zugetraut hätten", sagt sie. Er habe auch bei den Themen, die in die Zuständigkeit anderer Ressorts fielen, starke Präsenz gezeigt.

Krisenende nicht absehbar

"Beispielsweise hat er sich für die Entscheidungen der Waffenlieferungen und den Bundeswehr-Sonderetat verantwortlich gezeigt", so Hornung. Außerdem zog die Regierung Scholz den Schlussstrich unter dem Pipeline-Projekt "Nordstream 2". In den SPD-Streitigkeiten um Altkanzler Schröder positionierte sich Scholz ebenfalls deutlich.

Noch ist nicht absehbar, was von "Krise" auf normalen Regierungsmodus geschaltet werden kann. Schon jetzt steht aus Hornungs Sicht aber fest: "Es wird zentral sein, die Bevölkerung mitzunehmen". Die Menschen müssten sich in ihren eigenen täglichen Herausforderungen in Bezug auf alle Politikfelder ernstgenommen fühlen – nicht nur in Sachen Gesundheits- und Außenpolitik.

Aufgabe für die Zukunft

"Die Regierung darf nicht vergessen, welche alltägliche Herausforderungen es gibt und muss auch diese angehen", erinnert Hornung. Sonst entstehe in der Bevölkerung der Eindruck, es werde keine Politik für sie gemacht, sondern nur in Reaktion auf Krisen.

Ein Politikfeld hebt die Expertin dabei besonders hervor: "Im Wahlkampf wurde der Klimaschutz als zentrales Thema großgemacht. Es wird in Zukunft darauf ankommen, diesen Aspekt wieder stärker zu machen. Daran wird sich die Regierung messen lassen müssen."

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Über die Expertin: Dr. Johanna Hornung ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Vergleichende Regierungslehre und Politikfeldanalyse der Technischen Universität Braunschweig. Hornung studierte Sozialwissenschaften und Politikwissenschaften. Ihre Forschungsinteressen liegen im Bereich der vergleichenden Politikfeldanalyse mit einem Schwerpunkt auf Gesundheitspolitik und Elitenforschung.

Verwendete Quellen:

  • ZDF: Politbarometer. Dezember bis März
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