Bundeskanzlerin Angela Merkel reist am Wochenende in die Türkei. Ein Staatsbesuch, der ordentlich Zündstoff birgt. Sie braucht Präsident Recep Tayyip Erdogan, um die Flüchtlingskrise zu lösen - doch zu welchem Preis? Ein Türkei-Experte rechnet vor dem Treffen der beiden Regierungschefs schonungslos mit der Außenpolitik der Kanzlerin ab.

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Angela Merkel muss in diesen Tagen ganz schön einstecken. Die Flüchtlingskrise wird zu ihrer eigenen Regierungskrise. Parteifreunde wenden sich ab. Die Basis ihrer CDU ist sauer. Sie trifft vor Ort auf besorgte, teils verärgerte Bürger, bekommt deren Wut ab. Und der Koalitionspartner SPD, der bisher so brav mitregierte, zweifelt plötzlich öffentlich an der Richtigkeit der Politik seiner Regierungschefin. Merkel rudert zurück. Teilweise zumindest. Sie wird Zugeständnisse machen müssen. Auch solche, die wehtun.

Einen Vorgeschmack darauf bekommt sie am Wochenende. Dann nämlich reist die Bundeskanzlerin in die Türkei, um mit Präsident Recep Tayyip Erdogan über den Terror in Nahost zu sprechen - und über die Flüchtlingskrise. "Frau Merkel wird nicht mit dem besten Gefühl reisen", sagt Türkei-Experte Udo Steinbach im Gespräch mit uns. "Sie wird einen Deal machen müssen." Einen Kompromiss, der innenpolitisch gehörig Zündstoff birgt.

Millionen Flüchtlinge als Druckmittel für Erdogan

Es geht um die seit Jahren stockenden Verhandlungen über einen Beitritt der Türkei in die Europäische Union (EU). Im Gespräch sind die Visafreiheit für türkische Bürger sowie finanzielle Leistungen an den türkischen Staat für die Versorgung und Unterbringung von Flüchtlingen. Dieser nahm in der Vergangenheit Millionen Schutzsuchende aus Syrien auf. Mitte des Jahres war von zwischenzeitlich fünf Millionen Hilfsbedürftigen die Rede - Tendenz steigend.

Diese Menschen müssen versorgt werden, "und zwar unter würdigen Umständen", erklärt Steinbach. Der 72-jährige Islamkundler leitete einst die türkische Redaktion der Deutschen Welle in der Türkei, war dreißig Jahre lang Leiter des Deutschen Orient-Instituts in Hamburg. Er kennt die politischen Verhältnisse in der Türkei bestens. Und er weiß um die Eigenheiten der Regierung Erdogan sowie die Schwierigkeiten die dessen Ziele für die Kanzlerin mit sich bringen.

"Erdogan hat aus einem demokratischen Land einen autokratischen Herrschaftsstaat gemacht", sagt er. "Die Grundlagen für weitreichende Zugeständnisse der Kanzlerin fehlen eigentlich. Dennoch hat sie den Druck, sich anbiedern zu müssen." Eine verzwickte Lage Angela Merkel.

Ministeramt in Türkei "existiert nicht mehr"

"Der Ministerpräsident, der Frau Merkel eigentlich empfangen müsste, existiert als Amt nicht mehr. Es gibt kein funktionierendes Kabinett", erklärt der Wissenschaftler. Erdogan steht über allem. Welchen Deal kann die Kanzlerin in ihrer Not also überhaupt noch anbieten?

"Wir reden von erheblichen Zahlungen, die die Türkei seit langem fordert, um die Flüchtlinge dort zu halten", sagt Steinbach. "Die Visafreiheit dagegen ist bei uns höchst umstritten. Frau Merkel müsste drastische Erleichterungen zugestehen. Das ist wiederum innenpolitisch nur schwer zu verkaufen." Bereits mit den Balkanstaaten Serbien, Mazedonien und Albanien ging die EU eine solche Visafreiheit ein.

Der Kerninhalt: Bürger dieser Länder können sich mehrere Monate in der EU frei bewegen. Die Folge: Viele Menschen kamen in der Hoffnung, sich hier eine neue Existenz aufbauen zu dürfen. Es sind jene Menschen, die aus konservativer Richtung, etwa seitens der CSU, gerne als Balkan- und/oder Wirtschaftsflüchtlinge bezeichnet werden. Das Dilemma der Kanzlerin: "Ihr Spielraum ist gering", erklärt Steinbach. "Erdogan aber kann die Flüchtlinge als Druckmittel einsetzen und er tat dies bisher auch." Deshalb werde aus dem bösen nicht gleich ein guter Despot, sagt er. "Erdogan selbst strebt gar nicht nach Europa. In der Vergangenheit hat er sich mehrfach über das Konstrukt EU lächerlich gemacht. Seine Vision ist es, die Türkei zu einer Großmacht in ihrer Einflusssphäre zu machen, einer Neuauflage des Osmanischen Reichs."

Alles wartet auf die Wahlen in der Türkei

Das erschwert die Arbeit der Kanzlerin immens. Der türkische Präsident indes steht als Gewinner da - noch. "Er hat einen innenpolitischen Konflikt angezettelt", sagt Steinbach mit Verweis auf seinen autokratischen Herrschaftsstil und den bewaffneten Konflikt mit den Kurden. Am 1. November sind Wahlen in der Türkei. Steinbach prophezeit dem Präsidenten eine schwere Schlappe und erklärt: "Bis dahin sind keine Durchbrüche in der Flüchtlingsfrage zu erwarten. Dann wird sich entscheiden, ob die Türkei zurück in die Demokratie strebt." Die Flüchtlingsfrage könne davon nicht getrennt werden.

Insofern kommt der Besuch der Kanzlerin zwei Wochen zu früh. Gut möglich, dass Angela Merkel vorfühlen und bei der Lösung der Flüchtlingsfrage keine Zeit verlieren will. Der innenpolitische Druck, der auf ihr lastet, fliegt mit an den Bosporus. Steinbach urteilt hart: "Unsere Außenpolitik hat völlig versagt, sie ist reaktiv statt proaktiv, ein Scherbenhaufen", sagt er. "Die Syrien-Krise war völlig absehbar."

Millionen Flüchtlinge aus Palästina

Der Experte warnt, dass in den kommenden Jahren wegen des Aufloderns des Nahost-Konflikts zwischen Israel und Palästina weitere zwei Millionen Flüchtlinge aus dem Gaza-Streifen auf Europa zukommen könnten. Lösungen werden gefragt sein. Merkel konnte diese bisher nicht hinreichend abliefern - ausgerechnet Erdogan soll ihr nun ein Stück weit aus dem Schlamassel helfen.

Udo Steinbach, Jahrgang 1943, ist Doktor der Islamkunde. 1975 leitet der Wissenschaftler die türkische Redaktion der Deutschen Welle, zwischen 1976 und 2006 ist er der Direktor des Deutschen Orient-Instituts in Hamburg und bis Januar 2008 Direktor des GIGA-Instituts für Nahoststudien, ebenfalls in Hamburg.


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