Die Großdemonstration in Essen, bei der "Allahu Akbar" gerufen wurde und Männer und Frauen getrennt marschiert sind, wurde unter anderem von der Organisation "Generation Islam" organisiert. Aus Sicht von Experten handelt es sich dabei um eine Tarnorganisation. Lesen Sie hier, welche Ziele ihre Anhänger verfolgen und welche deutsche Politikerin aus Sicht eines Experten zum Erstarken beigetragen hat.

Eine Analyse
Dieser Text enthält eine Einordnung aktueller Ereignisse, in die neben Daten und Fakten auch die Einschätzungen von Marie Illner sowie ggf. von Expertinnen oder Experten einfließen. Informieren Sie sich über die verschiedenen journalistischen Textarten.

Wer ihr Instagram-Profil besucht, stößt auf eine Seite mit dunklen Bildern und großen Schriften. "Gaza entlarvt den Westen“ steht da zum Beispiel oder "Eine Ummah! Eine Einheit! Eine Lösung!" 74.400 Menschen folgen der Seite von "Generation Islam", die in den Sozialen Netzwerken vom "Täter Israel" und "antiislamischer Hetze" spricht.

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Auf der Seite gibt es Beiträge über Muslima, die einen Job in der Kita wegen ihres Kopftuchs nicht bekommen haben sollen, und Schlagzeilen wie: "Muslim rettet 17 Menschen aus einem brennenden Gebäude in Frankreich". Einer breiteren Öffentlichkeit bekannt wurde "Generation Islam" im Zuge der Großdemonstration in Essen am 3. November.

Rufe wie "Allahu Akbar"

Dort waren Rufe wie "Allahu Akbar" zu hören, Frauen mit Kindern marschierten getrennt von Männern und die schwarz-weiße Flagge mit dem Glaubensbekenntnis – wie sie auch der IS verwendet – wurde geschwenkt. Hauptredner Ahmad Tamim forderte die Errichtung eines Kalifats.

Zu den Organisatoren der Demonstration zählte auch die Gruppierung "Generation Islam". Zunächst gab die Polizei an, die Demonstration sei durchweg friedlich verlaufen. Später hieß es, die Absicht, für Gaza protestieren zu wollen, sei nur vorgeschoben worden und man habe eine religiöse Veranstaltung abhalten wollen. Die Behörden hätten strafrechtliche Ermittlungen aufgenommen.

Gruppierungen sind Tarnorganisationen

Bereits kurz nach der Demonstration wurden Rufe laut, Gruppierungen wie "Generation Islam", "Realität Islam" oder "Muslim Interaktiv" zu verbieten. Doch wer steckt überhaupt dahinter und was ist ihre Ideologie?

Der Islamwissenschaftler Patrick Möller forscht seit Jahren zu den Gruppen. Er sagt: "Es handelt sich dabei um Tarnorganisationen der panislamistischen Bewegung Hizb ut-Tahrir." Die ideologische Ausrichtung der drei Organisationen sei dieselbe, sie würden sich nur hinsichtlich der Schwerpunkte ihrer Arbeit unterscheiden.

"Es gibt in Deutschland vier regionale Kernzentren der Aktivitäten und Anhängerschaft der HT: Hamburg, Berlin, Rhein-Main-Gebiet und Ruhrgebiet. Die Szenen sind unterschiedlich groß, die mit Abstand größte ist laut dem Verfassungsschutz in Hamburg". Während "Muslim Interaktiv" seinen Schwerpunkt beispielsweise in Hamburg hat, agiert "Realität Islam" vor allem in und um Frankfurt.

Experte spricht von "politischer Sekte"

"Die Hizb ut-Tahrir ist im Grunde eine politische Sekte. Sie wurde 1953 von Palästinensern gegründet, die im Zuge der israelischen Staatsgründung aus ihrer Heimat fliehen mussten oder vertrieben wurden", erklärt Möller. Der übersetzte Name "Partei der Befreiung" beziehe sich nicht, wie man vielleicht meinen könnte, nur auf Israel. "Es geht um die Befreiung der gesamten islamischen Welt von dem, was die Bewegung als Hauptübel ausgegeben hat – den Säkularismus, also die Trennung von Staat und Religion", erklärt Möller.

Die Hizb ut-Tahrir (HT) strebe einen islamistischen Gottesstaat in Form eines globalen Kalifats an. Sobald das Kalifat einmal existiere, sollen den Schriften der Bewegung zufolge alle muslimischen Länder vereint und irgendwann auch der Rest der Welt der Ungläubigen bekämpft werden. "Seit 1953 gibt es seitens der HT einen Verfassungsentwurf für ihren künftigen Kalifatstaat – und der zeichnet das Bild eines kriegerischen, faschistischen Staates", sagt Möller und ergänzt: "Die Hizb ut-Tahrir ist im Grunde ein IS, der bisher zu feige ist, das, was er denkt, in die Tat umzusetzen."

Gefährliches Gedankengut

2003 wurde für die HT durch das Bundesinnenministerium ein Betätigungsverbot verfügt. Die Verfassungsschutzbehörden sprechen bei "Generation Islam", "Muslim Interaktiv" und "Realität Islam" jedoch von Nachfolgeorganisationen. Das Personenpotenzial beziffern die Behörden mit einem harten Kern von 750 Mitgliedern; das entspricht einer Verdoppelung in wenigen Jahren. Tendenz weiter steigend.

"Alle drei Organisationen verschleiern aufgrund des Betätigungsverbots ihren Bezug zu Hizb ut-Tahrir, aber die Sicherheitsbehörden wissen genau, dass es sich um deren Anhängerschaft handelt, sagt Experte Möller. Das Gedankengut der Szene stuft er als gefährlich ein – auch, wenn sie es bislang nicht umsetzen.

Gruppen rekrutieren an Universitäten

Denn die HT würde die Parole ausgeben, dass der deutsche Staat der Feind ist und den Islam vernichten will. In der muslimischen Welt soll es irgendwann einen Umwälzungsprozess geben, bei dem die Parteiführung entscheidet, wann der Punkt gekommen sei, die Macht zu ergreifen. "Dann soll eine Avantgarde das Kalifat ausrufen und alle muslimischen Länder integrieren. Wer sich dem nicht hingibt, soll bekämpft werden", sagt Möller.

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Dabei würden sich für die HT Islam und Demokratie nicht vereinen lassen. "Während die Muslimbruderschaft sich in ihrer Geschichte als Bewegung erwiesen hat, die sich etwa in Jordanien und Tunesien in ein demokratisches System integriert hat, ist dies für die HT verboten. Für sie gibt es nur die Option eines letztlich gewaltsamen Umsturzes und Staatsstreiches", sagt Möller.

Die Tarnorganisationen der HT würden vor allem an Universitäten rekrutieren und Islamismus im Internet TikTok-fähig und cool machen. "Wenn man einen Staatsstreich umsetzen möchte, braucht man dafür eine Avantgarde, weshalb man vor allem an den Universitäten und Menschen in akademischen Berufen rekrutiert", erklärt der Experte.

Mit Kopftuch-Debatte eine Vorlage geliefert

Auch, wenn die von den Sicherheitsbehörden geschätzte Anhängerschaft mit 750 Personen nicht groß sei – "bei Instagram, Facebook und TikTok erreichen sie teils hunderttausende Menschen", sagt Möller. Dabei agiere die HT extrem geschickt, indem sie Themen anspreche, mit denen sich fast jeder Muslim identifizieren könne – selbst, wenn er Alkohol trinkt, Schweinefleisch isst und überhaupt nicht religiös ist.

"Die Kopftuch-Debatte von 2018 ist eins der besten Beispiele", sagt Möller. Die CDU-Politikerin Serap Güler, damalige NRW-Staatssekretärin für Integration, hatte damals gefordert, das Tragen von Kopftüchern für Mädchen unter 14 Jahren zu verbieten. Die Forderung löste eine hitzige politische Debatte aus. Lehrer- und Schulverbände sprachen von einem real kaum existierenden Problem und eine Studie des Wissenschaftlichen Dienstes des Bundestages war nur ein Jahr zuvor zu der Einschätzung gekommen, dass ein solches Verbot wohl verfassungswidrig sei. Letztlich blieb Gülers Forderung folgenlos.

Gewinner waren Islamisten

"Das Ganze war eine Phantomdebatte, die auf dem Rücken der Muslime - egal ob religiös oder nicht - ausgetragen wurde. Mehr als 170.000 Menschen unterzeichneten eine Online-Petition, die gegen Gülers Forderung protestierte – nur wussten die wenigsten Leute, dass 'Realität Islam' die Petition erstellt hatte", erläutert Möller.

"Die einzigen Gewinner dieser Debatte waren die Islamisten der Hizb ut-Tahrir. Innerhalb weniger Wochen hat sich die Zahl der Follower von Realität Islam verdoppelt und niemand hat daran wohl so viel Anteil wie Serap Güler", sagt der Islamwissenschaftler rückblickend.

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Solche antimuslimischen Debatten in der deutschen Gesellschaft greife die HT auf. HT versuche nicht, sie zu kontextualisieren und beruhigend einzuwirken, sondern, ganz im Gegenteil, die Unmutsgefühle vieler Muslime noch zu verstärken, sagt Möller. "Die HT lebt von anti-muslimischen Stimmen in der Gesellschaft", sagt er.

Möller: "Erleben massiven Vertrauensverlust"

Mit Besorgnis beobachtet der Islamwissenschaftler, dass seit Beginn der israelischen Blockade des Gazastreifens in der deutschen migrantischen und muslimischen Community das Vertrauen in die Politik, Medien und die Mehrheitsgesellschaft massiv erodiert.

"Angesichts der Bilder und Warnungen der Vereinten Nationen vor einer humanitären Katastrophe im Gazastreifen wird die aktuelle politische Debatte in Deutschland von vielen Menschen als Heuchelei empfunden", sagt Möller. Viele Muslime würden nicht nur eine Dämonisierung der Palästinenser sehen, sondern seien selbst zur Zielscheibe geworden, sollten sich als Muslime oder arabischstämmige Menschen von etwas distanzieren, mit dem die wenigsten etwas zu tun haben.

"Viele Leute mit denen ich spreche – säkulare wie religiöse Muslime – sagen, dass sie sich noch nie so ausgegrenzt gefühlt haben, nicht mehr zur Wahl gehen oder gar auswandern wollen. Es ist ein massiver Vertrauensverlust, der Hilflosigkeit und Wut erzeugt", sagt der Experte. Solch eine Stimmung sei der perfekte Nährboden für eine neue Radikalisierungswelle, von der auch Islamisten wie die Hizb ut-Tahrir profitieren werden.

Radikalisierungswelle steht bevor

Sofern juristisch möglich, hält Möller es für richtig, die Tarnorganisationen der Hizb ut-Tahrir zu verbieten. "Die Organisationen wenden vielleicht selbst keine Gewalt an, sind aber ideologische Brandbeschleuniger und Durchlauferhitzer für andere gewaltbereite Islamisten", sagt er.

Er verweist auf Beispiele aus der Vergangenheit wie die aus der Hizb ut-Tahrir hervorgegangene dschihadistische Bewegung "Al-Muhajiroun" in Großbritannien und den deutschen IS-Terroristen Denis Cuspert, der nach eigenen Angaben einst mit Hizb ut-Tahrir zu tun hatte. "Die HT sagt, der Staat ist der Feind und wir werden das Kalifat irgendwann mit Gewalt wiederherstellen. Und dann wird es gewaltaffine Anhänger geben, die es irgendwann satthaben, weiter auf das 'Go!' zu warten."

Über den Gesprächspartner:

  • Patrick Möller ist Islamwissenschaftler mit dem Schwerpunkt Islamismus. 2022 erschien von ihm im Sammelband "Der islamische Fundamentalismus im 21. Jahrhundert" der Beitrag "Hizb ut-Tahrir – Comeback einer verbotenen Organisation".

Verwendete Quellen:

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