Boris Johnson hielt Großbritannien 2019 mit seiner kompromisslosen Politik zum Brexit in Atem. Der britische Premier steht nun kurz vor seinem Ziel und das Vereinigte Königreich vor dem Austritt aus der Europäischen Union. Die eigentlichen Herausforderungen beginnen damit aber erst.

Eine Analyse
Dieser Text enthält eine Einordnung aktueller Ereignisse, in die neben Daten und Fakten auch die Einschätzungen von Patrick Mayer sowie ggf. von Expertinnen oder Experten einfließen. Informieren Sie sich über die verschiedenen journalistischen Textarten.

Boris Johnson gibt sich gerne volksnah. Wenn der britische Premier zum Beispiel in knallbunten Bermuda-Shorts durch London joggt – samt Bodyguard. Oder wenn er bei einem Truppenbesuch kurz vor Weihnachten Brötchen an Soldaten der British Army verteilt - natürlich mit Kochschürze bekleidet.

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"Wir sind eine Regierung des Volkes", sagte der 55-Jährige zuletzt nach seinem deutlichen Sieg bei der Unterhauswahl. Eines Volkes, das nach dreieinhalb Jahren zäher Verhandlungen über den Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Union (EU) 2020 endlich Ergebnisse erwartet.

Boris Johnson frohlockt: Brexit am 31. Januar 2020

Der Brexit wird zum 31. Januar vollzogen, so viel ist nach dem Wahlsieg der konservativen Tories unter Johnson klar. Hinter dem britischen Regierungschef und seinen Gegnern liegt ein polarisierendes Jahr 2019, mit offenen Konfrontationen und der Erkenntnis, dass Johnson bereit dazu ist, notfalls mit allen Regeln des politischen Umgangs zwischen London, Edinburgh und Belfast zu brechen, um den Brexit nicht weiter hinauszuzögern.

Zu den bisherigen Ergebnissen gehört auch eine tiefe Verunsicherung in der Bevölkerung. Diese Ungewissheit entlud sich im Frühjahr für die ganze Welt sichtbar. Eine Chronologie:

Brexit: 23. März 2019 – mehr als eine Million Menschen auf Londons Straßen

Laut Organisatoren von "People’s Vote" nahmen am 23. März mehr als eine Million Menschen an einer Protestkundgebung gegen den Brexit in London teil. Sie forderten ein zweites Referendum über einen EU-Austritt Großbritanniens – unter dem Motto: "Put it to the people." Zu Deutsch: "Lasst das Volk entscheiden."

Zur gleichen Zeit erreichte eine Petition der Britin Margaret Georgiadou, den Brexit abzubrechen und in der EU zu verbleiben, mehr als sechs Millionen Unterstützer. Die damalige Regierung May wies die Petition jedoch lapidar zurück.

24. Juli 2019 – Theresa May gibt auf, Boris Johnson übernimmt

Theresa May hatte den Brexit vorangetrieben. Die Premierministerin rückte, längst politisch angeschlagen, wohl angesichts der Eindrücke im Frühsommer aber von ihrem rigorosen Kurs ab – und stellte sogar eine erneute Volksabstimmung in Aussicht.

Erzkonservative Kräfte bei den Tories lehnten das jedoch entschieden ab, drohten sogar mit einem Misstrauensantrag. Abgekämpft und schwer gezeichnet trat May am 24. Mai als Vorsitzende der Konservativen Partei und am 24. Juli als Premierministerin zurück.

Johnson übernahm. Der Brexit-Hardliner verließ den schwammigen Kurs seiner Vorgängerin und baute Druck auf das Parlament auf, indem er einen EU-Austritt ohne Freihandelsabkommen forcierte (No-Deal).

10. September 2019 – Boris Johnson begeht einen "Frevel"

Johnson beließ es nicht bei Worten, griff stattdessen zu einem radikalen Mittel: der Prorogation, der Vertagung des Parlaments. Seit 1948 war es das erste Mal, dass eine britische Regierung dieses Werkzeug gegenüber dem Parlament wählte. Die Entrüstung war gewaltig. Der Vorwurf: Johnson wolle die No-Deal-Skeptiker blockieren, hieß es.

"Ein Frevel gegen die Verfassung. Wie auch immer man es verpackt, es ist ganz offensichtlich, dass die Absicht hinter einer Sitzungsunterbrechung zu diesem Zeitpunkt wäre, das Parlament von einer Brexit-Debatte abzuhalten", meinte Parlamentspräsident John Bercow erbost. Der frühere Premier John Major erwog sogar juristische Schritte, Nicola Sturgeon, die Erste Ministerin und damit Regierungschefin Schottlands, schrieb bei Twitter: "Der heutige Tag wird in die Geschichte eingehen, als ein dunkler Tag für die britische Demokratie."

Johnson hatte alle genarrt, viele gegen sich aufgebracht – und dennoch Zeit gewonnen. Am 24. September entschied der Supreme Court, das höchste Gericht des Königreichs, dass die Vertagung nichtig sei und sich das Parlament nach wie vor in der Sitzungsperiode befinde. Großbritannien hatte sich zu diesem Zeitpunkt politisch längst blamiert.

12. Dezember 2019 – Boris Johnson und die Tories jubeln

Die Fronten waren verhärtet. Die No-Deal-Gegner brachten ein Gesetz durch Unterhaus und Oberhaus, das Johnson dazu verpflichtete, bei der EU einen späteren Austrittstermin als den ursprünglichen 31. Oktober zu erbitten. Das schwächte die ohnehin schwache Position der Briten weiter.

Umso gestärkter ging Premier Johnson aus den Neuwahlen am 12. Dezember hervor, mit immerhin 43,6 Prozent der Stimmen für seine Tories. Seine Probleme werden aber erst mit dem Austritt am 31. Januar beginnen, darin sind sich viele Beobachter einig.

Zum Beispiel mit der Sicherung der künftigen "Grünen Grenze" zwischen Irland (EU) und Nordirland (Vereinigtes Königreich) und damit der Angst vor terroristischen Attacken der nordirischen Untergrundorganisation IRA auf Grenzposten, Polizeistationen und Zollbehörden. Johnson unterschätze die Gefahr, kritisierte der irische Außenminister Simon Coveney.

Oder mit den Verhandlungen über das künftige Freihandelsabkommen. Johnson hatte angekündigt, Ende 2020 damit fertig sein zu wollen. Wahrscheinlicher ist aber, dass es länger dauert. Und die EU durch die bessere Verhandlungsposition auf Richtlinien nahe der bestehenden EU-Regeln pochen wird. 2019 war für die Brexit-Befürworter damit wohl nur ein gefühlter Sieg.

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