Hätte die Bundesregierung den Atomausstieg wirklich durchziehen sollen nach dem russischen Angriff auf die Ukraine? Ein Medienbericht entfacht die Debatte von Neuem. Wirtschaftsminister Robert Habeck steht unter Druck.
In zwei Sondersitzungen von Bundestagsausschüssen haben Wirtschaftsminister
"Im Raum steht weiter die begründete Annahme: Habecks Ministerium hat das Gegenteil dessen gemacht, was der Minister öffentlich angekündigt hatte. Verdrehung von Fakten statt ergebnisoffener Prüfung", sagte der Sprecher für Klimaschutz und Energie der Unionsfraktion, Andreas Jung (CDU), der Deutschen Presse-Agentur in Berlin.
Auslöser der aktuellen Kontroverse ist ein Bericht des Magazins "Cicero", wonach sowohl im Wirtschafts- als auch im Umweltministerium im Frühjahr 2022 interne Bedenken zum damals noch für den folgenden Jahreswechsel geplanten Atomausstieg unterdrückt worden sein sollen – was beide Ministerien aber bestreiten.
Wirtschaftsministerium wollte Unterlagen nicht herausrücken
Ein "Cicero"-Journalist erstritt die Herausgabe der Akten vor Gericht und hat dem Magazin zufolge am Ende "zwei gut gefüllte Aktenordner" erhalten. Bis dahin hatte Habecks Bundeswirtschaftsministerium nur einen Teil der geforderten Dokumente übergeben und dies mit der Vertraulichkeit der Beratungen begründet, wie im Urteil des Berliner Verwaltungsgerichts aus dem Januar dieses Jahres nachzulesen ist.
"Eine nachträgliche Herausgabe von vertraulich übermittelten Informationen hätte zur Folge, dass künftig ein unbefangener Meinungsaustausch nicht mehr möglich wäre", schreibt das Gericht über die Argumentation des Ministeriums. Zudem werde die Rolle der Kernkraft medial und politisch diskutiert.
Die Richter überzeugte das nicht. Das Ministerium konnte aus ihrer Sicht nicht begründen, wieso die Veröffentlichung eine künftige Meinungsbildung innerhalb der Bundesregierung beeinträchtigen würde.
Das kontroverse Papier
Mitarbeiter von Habecks Ministerium argumentierten im Entwurf eines Vermerks vom 3. März 2022, unter bestimmten Umständen könne eine begrenzte Laufzeitverlängerung der verbleibenden deutschen Atomkraftwerke bis in das folgende Frühjahr sinnvoll sein. Sie rieten dazu, diese Möglichkeit weiter zu prüfen. Ein Aspekt, der in dem fraglichen Entwurf nicht diskutiert wurde, war die Frage der Sicherheit des Weiterbetriebs. Es ging hier vorrangig um Fragen der Energieversorgung. Das Papier liegt auch der Deutschen Presse-Agentur in Berlin vor. In der Leitungsebene kannte das Dokument laut Ministerium nur Staatssekretär Patrick Graichen, ein Parteifreund Habecks, der später nach Vorwürfen der Vetternwirtschaft das Amt räumen musste – den Minister hätte es damit nicht erreicht.
Nach Habecks Darstellung ist das aber kein Problem. "Mein Haus hat 2.400 Mitarbeiter", sagte der Minister am Freitag. Die fachliche Diskussion sei wichtig. Für ihn seien aber die Gespräche mit den Atomkraftwerks-Betreibern ausschlaggebend gewesen. "Entscheidend ist, dass ich in den wirklich relevanten Runden, und das sind die Runden mit den Versorgungsbetreibern, also RWE, ENBW und Eon, immer die richtigen Fragen stellen konnte. Und da bin ich sicher, dass die gestellt wurden." Die Betreiber hätten damals gesagt, die vorhandenen Brennelemente seien bis Jahresende aufgebraucht. Später seien diese Angaben korrigiert worden: "Da hieß es dann, die können doch noch zwei, drei, vier, fünf Monate länger laufen. Und entsprechend wurde dann auch noch einmal die Laufzeit verlängert."
Das Wirtschaftsministerium sagt zudem, das Papier sei eingeflossen in einen später veröffentlichten Prüfvermerk der Ministerien für Wirtschaft und Umwelt, in dem diese sich gegen eine Laufzeitverlängerung aussprachen – unter Verweis auf die "sehr hohen wirtschaftlichen Kosten, verfassungsrechtlichen und sicherheitstechnischen Risiken", wie es in einer Pressemitteilung hieß.
Warum 2022 wieder über den Atomausstieg diskutiert wurde
Auslöser für die neuerliche Debatte seinerzeit war der russische Angriff auf die Ukraine am 24. Februar 2022 und in der Folge eine dramatische Verschlechterung der Beziehungen auch zwischen Deutschland und Russland. Russland war damals Deutschlands wichtigster Gaslieferant. Die Frage, was das für die Energiesicherheit hierzulande bedeuten würde, stand also im Raum. Ab September floss dann praktisch kein russisches Gas mehr nach Deutschland.
Das Wirtschaftsministerium argumentierte noch im Sommer, dass Deutschland im Falle einer Gasknappheit ein Problem mit der Bereitstellung von Wärme hätte – und nicht von Strom, den Atomkraftwerke liefern würden. FDP-Chef Christian Lindner und Parteikollegen hielten dagegen: Selbst ein geringer Beitrag zur Energiesicherheit sei relevant.
Beliebt war der Atomausstieg im Frühjahr 2022 nicht: In einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Civey aus dem März im Auftrag der "Augsburger Allgemeinen" sprachen sich 70 Prozent der Befragten für eine Laufzeitverlängerung aus. Im ARD-Deutschlandtrend vom April 2023 bewerteten 59 Prozent die Entscheidung für den Atomausstieg als falsch.
Ampel-Streit um die Atomkraft
Die Grünen, für die Anti-Atomkraft-Proteste früherer Jahre praktisch zum Gründungsmythos gehören, sperrten sich lange gegen jeglichen Weiterbetrieb. Im Oktober schließlich stellte sich ein Parteitag hinter Vorschläge Habecks, zwei der letzten drei deutschen Atomkraftwerke über den Jahreswechsel hinaus in einer Reserve zu halten und bei Bedarf kurzfristig wieder zur Stromerzeugung zu nutzen. Doch erst ein Machtwort von Kanzler Olaf Scholz (SPD) zwei Tage später für einen befristeten Weiterbetrieb bis Mitte April 2023 beendete den Streit.
So sehr der Atomausstieg den Grünen am Herzen liegt – den Beschluss dafür fasste eine schwarz-gelbe Bundesregierung unter der Führung von Angela Merkel (CDU) nach der Atomkatastrophe von Fukushima 2011. Im Jahr 2022 waren noch drei Meiler am Netz, Isar 2 in Bayern, Neckarwestheim in Baden-Württemberg und das AKW Emsland in Niedersachsen. Ursprünglich hätten sie zum Jahreswechsel 2022/23 vom Netz gehen sollen – dies geschah dann erst einige Monate später, vor rund einem Jahr am 15. April.
Laut dem Vergleichsportal Verivox sinken mit den Großhandelspreisen für Strom auch die Verbraucherpreise wieder. Im Jahresvergleich seien diese im Schnitt um 17 Prozent gesunken. Die Neukundenpreise für Strom sind im Jahresvergleich demnach sogar um 25 Prozent gesunken und liegen mit 24,7 Cent die Kilowattstunde wieder auf Vorkrisen-Niveau. (Martina Herzog, dpa/tas)
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