Die elektronische Patientenakte steht in den Startlöchern und schon in der Kritik. Gesundheitsminister Karl Lauterbach sieht keinen Grund zur Sorge und garantiert im Interview: Los geht es erst, wenn Datenmissbrauch im großen Stil technisch ausgeschlossen ist.

Ein Interview

Es ist Wahlkampf. Aber eigentlich hat Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach keine Zeit dafür. Sein Ministerium ist mit einem weiteren Großprojekt beschäftigt: Am 15. Januar soll die Testphase der elektronischen Patientenakte starten. Der Chef der Allianz-Versicherung hat außerdem zu Beginn des Jahres die Debatte angestoßen, ob sich die Deutschen zu oft krankmelden. Lauterbach hat dazu eine klare Meinung.

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Der SPD-Politiker sieht sich gerne als Mann für die großen Reformen im Gesundheitssystem. Im Interview mit unserer Redaktion macht er deutlich: Die nächste Bundesregierung wird damit weitermachen müssen.

Herr Lauterbach, der Chef der Allianz-Versicherung fordert, die Lohnfortzahlung am ersten Krankheitstag zu streichen. Ist das ein sinnvoller Weg, um die Kassen zu entlasten?

Karl Lauterbach: Nein. Den größten Teil der Krankheitstage machen in Deutschland nicht die sogenannten Blaumacher-Tage aus, bei denen jemand zu Hause bleibt, obwohl er vielleicht noch hätte arbeiten können. Die Arbeitszeit verlieren wir bei den Menschen, die viele Tage, Wochen oder sogar Monate krank sind. Aus dem gleichen Grund haben wir auch die niedrigste Lebenserwartung in Westeuropa. Wenn man jetzt die Beschäftigten unter Druck setzt, krank zur Arbeit zu gehen, weil sie sich den Karenztag nicht leisten können, dann riskieren wir, dass sie Kollegen anstecken oder Krankheiten verschleppen.

Womöglich gibt es in Deutschland aber ein Problem mit vielen Krankheitstagen.

Ich finde die Debatte auch richtig und notwendig. Sie rückt nämlich ein großes Problem in den Fokus: Die Vorbeugemedizin funktioniert in Deutschland nicht. Es ist viel zu wenig gemacht worden, um Zuckerkrankheit, Übergewicht, Herz-Kreislauf-Erkrankungen zu vermeiden. Dort fehlen die Gesetze, und die werden eine wichtige Aufgabe der nächsten Bundesregierung sein. Wir haben in der aktuellen Bundesregierung das "Gesundes-Herz-Gesetz" schon auf den Weg gebracht – aber es konnte nicht mehr vom Bundestag beschlossen werden.

Heißt das, die Krankenkassen sollen Gesundheitskassen werden?

Tatsächlich würde nichts die Kosten und die Qualität unseres Gesundheitssystems mehr beeinflussen als funktionierende Vorsorge. Ein Beispiel: Die Hälfte der Menschen mit Bluthochdruck in Deutschland wird nach wie vor nicht medikamentös behandelt. Die andere Hälfte wiederum wird nur zur Hälfte richtig behandelt.

Was bedeutet das konkret?

Nur einer von vier Patienten wird ausreichend behandelt. Drei von vier hingegen haben ein höheres Risiko für Herzinfarkte, für Schlaganfälle, für Nierenschwäche, für Herzinsuffizienz, für Rhythmusstörungen und im Alter auch ein deutlich erhöhtes Risiko für Demenz.

"Unser System ist das teuerste in Europa und wir haben eine mittelmäßige Behandlungsqualität."

Karl Lauterbach

In der Diskussion stehen auch mehr Zuzahlungen bei Medikamenten und Behandlungen. Das klingt wie bei Privatversicherungen. Ist die Zeit der gesetzlichen Krankenkassen vorbei?

Nein. Ich werde dem Vorschlag, Selbstbehalte von gesetzlich Versicherten einzufordern, auf keinen Fall nachkommen. Das würde ja bedeuten, dass diejenigen, die monatlich 500, 600, 700 Euro oder gar mehr für die Krankenkasse zahlen und dann Versorgung benötigen, dafür zunächst einen ordentlichen Selbstbehalt zahlen sollen – gleichzeitig gilt das aber weder für Beamte noch für Bürgergeldempfänger. Wie wollen Sie das den Beschäftigten erklären? Das werde ich nicht machen.

Das Problem existiert: Die Kassenbeiträge steigen, die Krankenstände sind hoch. Wird die Kasse künftig zu einer reinen Grundversorgung, um finanzierbar zu bleiben?

Wir brauchen eine Fortführung der Strukturreformen. Die Kosten werden sonst weiter steigen, und zwar erbarmungslos. Unser System ist das teuerste in ganz Europa und wir haben eine mittelmäßige Behandlungsqualität.

Wie lässt sich das ändern?

Wir haben zu viele Krankenhäuser, aktuell steht jedes dritte Bett leer und das, obwohl wir zu viel operieren und zu viel stationär machen. Die Krankenhausreform wird bei einer Senkung der Kosten durch mehr Spezialisierung zu besserer Qualität führen. Auch bei den Praxen lassen sich Kosten einsparen.

Und wie?

Mit der elektronischen Patientenakte wird es möglich sein, dass der Patient etwa bei einer Grippe oder einem Sportunfall per Videoschalte telemedizinisch behandelt werden kann. Der Arzt wiederum kann direkt alle Befunde einsehen und so entscheiden, ob der Patient doch in die Praxis kommen muss. Der Patient muss also gar nicht in die Praxis kommen. Von aktuell einer Milliarde Arzt-Patient-Kontakten kann so bis zu einem Drittel eingespart werden. Auch das senkt Kosten. Ein dritter Einsparungspunkt sind die Notfallzentren. Dort sitzen ein Drittel Patienten, die dort gar nicht behandelt werden müssten. Das Gesetz ist fertig. Auch hier ist uns der unvorhersehbare Ausstieg der FDP dazwischengekommen.

Sie meinen die Notfallreform.

Ja. Die Reform würde dazu führen, dass die Notfallzentren viele Fälle übernehmen würden, die heute stationär aufgenommen werden. Nach der Behandlung im Notfallzentrum könnten die Patienten direkt wieder nach Hause gehen. In den Notfallzentren sind dann auch Praxen. Auch das ist eine preiswertere und bessere Medizin.

Schon heute steht die telefonische Krankschreibung besonders von Seiten der Wirtschaft in der Kritik. Wieso sollte die von Ihnen angesprochene Telemedizin besser ankommen?

Die Wirtschaft unterstellt den Menschen, sich unberechtigt krankschreiben zu lassen. Das ist nicht belegbar. Es ist unverantwortlich, dass wir Menschen mit einer Grippe oder Covid und anderen Atemwegserkrankungen zwingen, sich entweder zum Arzt oder zur Arbeit zu schleppen. Das kann nicht die Lösung sein. Die telefonische Krankschreibung funktioniert gut und muss beibehalten werden.

"Die Daten der Bürgerinnen und Bürger sind sicher vor Hackern."

Karl Lauterbach

Am 15. Januar soll die Pilotphase für die elektronische Patientenakte starten, kurz ePA. Jetzt weist der Chaos Computer Club (CCC) auf mögliche Sicherheitsmängel hin. Können Sie die ePA den Patientinnen und Patienten wirklich guten Gewissens empfehlen?

Auf jeden Fall. Wir kennen die Sicherheitsprobleme, die der Chaos Computer Club ausgemacht hat und lösen sie. Wir waren auch vor der Veröffentlichung mit dem CCC im Kontakt. Seit längerem arbeiten wir zusammen mit der Digitalagentur im Gesundheitswesen, der Gematik (Anmerkung der Redaktion: Gesellschaft der Spitzenverbände des Gesundheitswesens, die die ePA umsetzt), und dem Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik an Lösungen. Die Daten der Bürgerinnen und Bürger sind sicher vor Hackern. In der Pilotregion wird die ePA nur zur Verfügung stehen für die Ärzte, die wir in der Region ausgesucht und registriert haben. Und der bundesweite Rollout startet ebenfalls erst, wenn der massenhafte Datenmissbrauch technisch ausgeschlossen ist. Das sichere ich zu.

Wie können Sie da so sicher sein?

Der Chaos Computer Club hat nur theoretische Einfallstore der neuen ePA benannt. Aber die neue ePA war ja bisher noch gar nicht auf dem Markt. Deswegen haben wir genug Zeit, um die theoretisch aufgezeigten Risiken bis zum Start technisch zu beheben. Ohne grünes Licht von den Experten des Bundesamts für Sicherheit in der Informationstechnik legen wir nicht los.

In Großbritannien sind im vergangenen Jahr Bluttest-Daten im großen Stil im Darknet aufgetaucht. Wie will Deutschland sicherstellen, dass das nicht auch hier passiert?

Die Daten der elektronischen Patientenakte sind so gesichert, dass man mit einer Versichertenkarte bei einem Arzt immer nur auf eine Akte zugreifen kann. Das ist ein völlig anderes Sicherheitskonzept als in Großbritannien.

Viele Menschen stehen dem Gesundheitssystem gerade seit der Corona-Pandemie misstrauisch gegenüber. Wie wollen Sie jetzt für Vertrauen in die elektronische Patientenakte sorgen?

Mit Transparenz. Ich erkläre immer genau, was wir vorhaben. Wir werden die verwendete Sicherheitsarchitektur genau erläutern. Es ist auch wichtig, auf den großen Nutzen hinzuweisen. Mit der elektronischen Patientenakte können allein durch die vermiedenen Medikationsfehler pro Jahr mehrere 10.000 Menschen gerettet werden. So viele Menschen sterben zurzeit wegen Wechselwirkungen oder falsch eingenommener Arzneimittel. Der Sicherheitsnutzen der ePA bei Verschreibungen ist vergleichbar mit Gurt und Airbag beim Autofahren.

Wegen der Neuwahl des Bundestags ist die Wahlperiode kürzer als erwartet. Sie hatten sich ein großes Reformprogramm vorgenommen. Wie fällt Ihre Bilanz nach drei Jahren aus?

Wir haben viel geschafft. Wir haben die Corona-Pandemie durch die letzte Phase gebracht. Weniger Menschen starben bei uns als in anderen Ländern Europas. Die Krankenhausreform, das Medizinforschungsgesetz und die elektronische Patientenakte werden das Gesundheitssystem für die kommenden 20 Jahre verändern. Bei Medizinforschung werden wir in Europa an die Spitze kommen. Die Zahl der Studien steigt stark. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in meinem Ministerium haben viel geleistet, und die Ampel hat in der Gesundheitspolitik gut funktioniert. Wir hatten aber noch mehr vor. Ich bin tief enttäuscht von der Führung der FDP. Ich halte es für einen historischen Fehler, dass sie es auf einen Bruch der Koalition angelegt hat. Im Fall der Gesundheitspolitik geht das auf Kosten der Gesundheit der Patienten.

Über den Gesprächspartner

  • Seit 2021 ist Karl Lauterbach (SPD) Bundesgesundheitsminister und seit 2005 Mitglied des Bundestags. Lauterbach ist zudem Gesundheitsökonom und lehrt an der Harvard School of Public Health. Der 61-Jährige hat fünf Kinder und lebt als Pescetarier: Er isst also Fisch, aber kein Fleisch.
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