Jamaika ist gescheitert, die FDP hat die Verhandlungen platzen lassen – und könnte sich damit verzockt haben, meinen Experten. Die Kanzlerin ist geschwächt, aber alternativlos. Und der AfD spielt der Abbruch der Verhandlungen in die Karten.
Wie eine vorformulierte Pressemitteilung wirke das, was er da gerade vorgelesen habe. Das soll
Kurze Zeit später veröffentlichte die Partei einen Tweet inklusive Grafik. Auch das wirkte wie von langer Hand vorbereitet.
Seit dieser denkwürdigen Nacht, die Angela Merkel als "fast historisch" bezeichnet hat, spekulieren die Experten: Hat die FDP die Karten an sich gerissen, um sie neu zu mischen – oder um sie einfach nur auf den Boden zu werfen?
"Die Entscheidung war mir wie vielen anderen Beobachtern ein völliges Rätsel", sagt Politikwissenschaftler Michael Kolkmann von der Universität Halle im Gespräch mit unserer Redaktion. "Ich hätte gedacht, dass am Ende immer eine Einigung steht, weil Neuwahlen drohten und keine der an den Gesprächen beteiligten Parteien daran ein Interesse haben könnte."
Nun stehen CDU, CSU, Grüne und FDP mit leeren Händen da und blicken einer ungewissen Zukunft entgegen. "Spiegel Online" ruft schon den Anfang vom Ende der Ära Merkel aus. Die FDP muss Kritik aus allen Lagern einstecken, die CSU beschäftigt sich ohnehin mit sich selbst. Aber es gibt in dieser Situation auch Gewinner.
Die Rückkehr der Lager
Politikexperte Gero Neugebauer von der FU Berlin heftet die Wochen der Sondierung unter "politische Bildung" ab: "Das Wahlvolk hat gewonnen, es konnte erkennen, um welche Punkte wirklich gerungen wird in diesem Land."
Michael Kolkmann sieht es ähnlich wie sein Berliner Kollege: "Es wird wohl kaum noch Menschen geben, die behaupten, es gebe keine Unterschiede mehr zwischen den Parteien."
Vor allem die Grünen haben für ihre Ziele gekämpft, seien aber gleichzeitig weit über ihren Schatten gesprungen, meint Kolkmann. Er zählt die Partei deswegen zu den Profiteuren der gescheiterten Sondierungen.
Genau wie eine Partei, die gar nicht dabei war: Die AfD bejubelte das Ende der Gespräche und fordert bereits Neuwahlen.
Das Ende von Jamaika verschaffe der AfD weitere Argumente gegen die etablierten Kräfte, meint Kolkmann: "Es gibt der AfD die Möglichkeit, zu sagen: Die Altparteien schaffen es nicht einmal, eine Regierung zustande zu bringen."
Es müssen nicht Neuwahlen sein
Noch sind Neuwahlen aber nur eine von mehreren Optionen: Die Neuauflage einer Großen Koalition wäre möglich, unwahrscheinlicher wären schon "Kenia" (also Schwarz-Rot-Grün) oder eine Minderheitsregierung von Schwarz-Grün.
All diesen Gedankenspielen ist gemein, dass sie von der einen oder anderen Seite schon verworfen wurden – aber das war vor dieser "fast historischen" Nacht.
Die SPD könnte sich in der neuen Situation gezwungen sehen, die "staatspolitische Verantwortung" zu übernehmen, die ihr ausgerechnet Christian Lindner in der Elefantenrunde am Abend der Bundestagswahl so vehement ans Herz legte.
Zumal, wie Kolkmann denkt, die Sozialdemokraten in Neuwahlen wenig zu gewinnen hätten. "Sie befindet sich nicht gerade in einer komfortablen Lage. Wenn es Neuwahlen gibt, mit welchem Kandidaten soll sie hineingehen, mit welchen anderen inhaltlichen Schwerpunkten?"
Neugebauer hält insbesondere eine Minderheitenregierung für eine sinnvolle Option, selbst wenn Deutschland bis auf drei Intermezzos keinerlei Erfahrung damit hat. "Eine Minderheitenregierung wäre nach dem Einzug der AfD eine weitere Angleichung an europäische Normalverhältnisse", sagt der Berliner Politikprofessor.
Zwar kollidiere so eine Regierung mit dem traditionellen deutschen Bild von Stabilität, "aber was soll’s: Verhältnisse ändern sich." Auch eine Neuwahl hält Neugebauer für unproblematisch – was für das politische System sicher stimmt, aber die Befindlichkeiten von Wählern und Parteien außer Acht lässt.
Kolkman vermutet, dass an der Basis die Lust auf einen Wahlkampf im Winter nicht besonders groß sein wird. "Und es ist auch eine finanzielle Frage."
Merkel geschwächt, aber alternativlos
Welche Option der Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier in die Wege leitet, wird auch von der Frage abhängen, wie es mit den Spitzenkandidaten der Parteien weitergeht – allen voran mit Angela Merkel.
Für Kolkmann ist das noch überhaupt nicht abzusehen, auch wenn die Kanzlerin einer schwächeren Position sei als vorher.
Neugebauer sieht das Scheitern der Sondierungen dagegen als klare Niederlage für die Kanzlerin. Allerdings gebe es innerhalb der Union keine Alternative zu ihr. "Selbst wenn es fünf Monate bis zu Neuwahlen dauern sollte, sehe ich nicht, dass die Union sich auf den Weg zu einem anderen Spitzenkandidaten macht."
Und was Merkel selbst betrifft: Die hat im Laufe des Montages klar gemacht, dass sie ihre Partei in Neuwahlen führen wolle, falls es dazu kommen sollte.
Sie sei "eine Frau, die Verantwortung hat und auch bereit ist, weiter Verantwortung zu übernehmen", sagte die geschäftsführende Bundeskanzlerin in einem ARD-"Brennpunkt".
Auf die Frage, ob bei ihr am Sonntagabend persönliche Konsequenzen und ein Rücktritt im Raum standen, sagte die CDU-Chefin in der ZDF-Sendung "Was nun, Frau Merkel?": "Nein, das stand nicht im Raum. Ich glaube, Deutschland braucht nun Stabilität."
Im Machtkampf in der CSU könne Horst Seehofer Schwung mitnehmen, meint Neugebauer, weil er hart verhandelt und die Pleite nicht zu verantworten habe.
Wenn es zu Neuwahlen kommen sollte, könnte sich die FDP verzockt haben. "Vielleicht hat Lindner zu sehr nach Österreich geschaut", mutmaßt Michael Kolkmann, "wenn er die FDP zu einer Rechtspartei light entwickeln will, ist die große Gefahr, dass er auf der einen Seite verliert, was er auf der anderen gewinnt."
Die Daten der Wählerwanderung legen nahe, dass viele CDU- und SPD-Wähler auf die Liberalen umgeschwenkt sind, die könnten ihre Entscheidung überdenken.
Besonders, wenn im Wahlkampf nicht Inhalte die größte Rolle spielen, sondern wenn es nur darum geht, wer Jamaika hat platzen lassen. "Es kommt jetzt sehr darauf an, wie sich in den nächsten Tagen die öffentliche Debatte entwickelt, welches der von den Parteien angebotene Narrativ sich durchsetzt, wer also die Schuld am Scheitern bekommt", sagt Kolkmann.
Die FDP sollte also wieder ein paar gut vorbereitete Statements parat haben.
(mit Agenturmaterial der dpa)
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