Noch etwas mehr als ein Jahr ist es bis zur nächsten Bundestagswahl, die Beliebtheitswerte von Olaf Scholz und seiner Ampelregierung fallen. Ist Scholz gescheitert? Beim Bürgerdialog in Berlin stellt sich der Kanzler den Fragen des Publikums, zeigt Charme – und weicht aus.

Eine Analyse
Dieser Text enthält eine Einordnung aktueller Ereignisse, in die neben Daten und Fakten auch die Einschätzungen von Rebecca Sawicki sowie ggf. von Expertinnen oder Experten einfließen. Informieren Sie sich über die verschiedenen journalistischen Textarten.

Olaf Scholz guckt konzentriert, er hält ein Mikrofon in der einen Hand, nestelt mit der zweiten am Schaumstoff-Windschutz des Gerätes herum. Es sind 33 Grad. In dem Zelt, in dem der Kanzler gerade inmitten seines aufmerksamen Publikums steht, ist es wegen der Beleuchtung noch wärmer. Scholz trägt ein weißes Hemd, der oberste Knopf ist geöffnet.

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Kanzler zeigt Charme und weicht doch aus

Eine Frage, die ihm gestellt wird, behagt ihm offensichtlich nicht. Es geht um Geflüchtete und Wohnungsknappheit. Warum er zulasse, dass so viele Menschen ins Land kämen und deshalb kein bezahlbarer Wohnraum für Deutsche bleibe.

Der Frager solle dieser Erzählung nicht auf den Leim gehen, sagt Scholz ruhig, aber bestimmt. Die Wohnungskrise habe nichts mit Geflüchteten zu tun, Wohnraummangel gebe es schon länger. Deshalb habe er sich vorgenommen, mehr Wohnungen zu bauen – dann aber sei viel dazwischengekommen. Statt vieler neuer Wohnungen gebe es nun mehr Förderung.

Das Thema Migration will er trotzdem noch ansprechen: Er benennt die Vorteile von Migration, dass sie etwa eine Lösung für den Fachkräftemangel sein könnte. Er umschifft die Frage eine Weile, ehe er auf das eigentliche Problem eingeht, das der Bürger anspricht. Scholz betont: Er und seine Regierung würden dafür sorgen, dass irreguläre Migration besser geordnet werde. Er nennt die Ausweitung der Liste der sicheren Herkunftsländer als Beispiel.

Es ist an diesem Abend nicht die einzige Frage zum Thema Migration. Scholz stellt sich im Süden der Hauptstadt in der alten ufaFabrik den Fragen von etwa 150 Bürgerinnen und Bürgern. Wohl einer der angenehmeren Termine im Leben des Olaf Scholz. Zwar brennen den Fragenden viele kritische Themen unter den Nägeln, wirklich festnageln kann den Kanzler aber niemand.

Die Atmosphäre ist entspannt, einen großen Knall oder laute Wut gibt es nicht. Die meiste Zeit dürfte es der Kanzler wohl weniger flauschig haben als dort zwischen den Menschen, die sich beworben haben, um ihm Fragen stellen zu können.

Den Kanzler einmal ganz nah erleben: Das hat die meisten Gäste angetrieben, wie bei einer Umfrage zu Beginn der Veranstaltung herauskommt. An diesem Abend zeigt Scholz Charme und Witz, erntet Lacher und Applaus – und weicht doch brenzligen Fragen aus.

Thematisch ist das Aufeinandertreffen von Kanzler und Bürgern ein wilder Ritt: Migration, Mieten, innere Sicherheit, Ukraine, Verbot von Werbung für gesundheitsschädliche Kinderprodukte, die Ansprache von Menschen mit Behinderung, die Rolle der Bundeswehr – um nur einige Beispiele zu nennen.

Scholz nimmt die Bürger in die Pflicht, die Demokratie zu verteidigen, und bleibt schwammig, wenn es etwa um das geplante Demokratiefördergesetz geht. Er stehe hinter dem Gesetzentwurf, nun gehe es darum, dass er durch das Parlament geht. Er drückt sich um klare Antworten, wenn es um den Umgang mit der AfD geht ("Zeiten der Unsicherheit sind Zeiten, in denen Sumpfblüten gut gedeihen") und macht seine Späße, wenn es um die Lage der Koalition geht ("Welches Patentrezept haben Sie? Ich meine, ich frage für einen Freund").

Ampelregierung steht unter Druck

Scholz und seine Ampelregierung haben aktuell einen schweren Stand in der Bevölkerung. Erstmals ist laut Umfragen CDU-Chef Friedrich Merz der beliebtere Kanzlerkandidat. Scholz ist seinerzeit mit dem Slogan "Respekt" angetreten. Debatten über Bürgergeld, Lohnabstand und Geflüchtete zeigen: Nicht alle fühlen sich in diesem Land respektiert.

Die heftigste Klatsche für das Kabinett Scholz war die Wahl in Thüringen am vergangenen Sonntag: Die dort als gesichert rechtsextremistisch eingestufte AfD wurde mit weitem Abstand stärkste Kraft. Die Sozialdemokraten zogen mit mageren 6,1 Prozent in den Landtag ein, Grüne und FDP flogen raus. In Sachsen sieht es nicht viel besser aus.

Brandenburg-Wahl könnte entscheidend sein

Den Brandenburger Sozialdemokraten ist offenbar daran gelegen, dass die Führungsriege während des Wahlkampfs in Berlin bleibt. Mit Scholz auftreten will Ministerpräsident Dietmar Woidke nicht. Landesfinanzministerin Katrin Lange (SPD) fordert, dass die Parteivorsitzende Saskia Esken erst einmal nicht mehr in Talkshows auftreten sollte. Auf einen Kanzler-Booster setzt hier offenbar niemand.

Das Ergebnis der Brandenburg-Wahl kann innerhalb der SPD einen Balanceakt auslösen: Ministerpräsident Dietmar Woidke (SPD) hat bereits angekündigt, nicht weiterzumachen, sollte die SPD nicht Platz eins erreichen. Laut Umfragen liegt die Partei aktuell auf Platz zwei hinter der AfD. Wie an der Urne tatsächlich abgestimmt wird, bleibt abzuwarten.

Kann die SPD Brandenburg halten, könnte auch die Kritik an der Führung leiser werden. Vielleicht brauchen die Sozialdemokraten mal wieder ein Erfolgserlebnis. Tritt auch dort das Worst-Case-Szenario ein, dürfte es aber noch ungemütlicher werden.

Experte: Charakter eines "Kanzlerwahlvereins"

Bislang zieht die Parteispitze einen Schutzkreis um Scholz, den Kanzler und Kanzlerkandidaten für 2025. Dieser Kreis sei das Resultat von Scholz' Erklärung, wieder als Kanzler antreten zu wollen, sagt Politikwissenschaftler und SPD-Experte Gero Neugebauer von der Freien Universität Berlin. Ebendieser Schutzkreis verleihe der SPD den Charakter einen "Kanzlerwahlvereins". Das erzeuge Unruhe innerhalb der Partei.

Was passiert, wenn die SPD eine weitere Wahl krachend verliert? Wenn Woidke wirklich abdankt, statt als möglicherweise Zweitplatzierter eine mehrheitsfähige Koalition zu bilden? Das Rumoren und die Rufe nach mehr Profil dürften noch lauter werden. In der Wahlnachlese dürfte wieder davon die Rede sein, mehr und besser erklären zu wollen – auch wenn sich mittlerweile selbst die Sozialdemokraten fragen müssen, wie viel sie noch erklären wollen.

Dass die SPD die Ampel platzen lässt, kann sich Neugebauer nicht vorstellen. Olaf Scholz würde ein schlechtes Resultat demnach politisch überleben – es könnte aber auch die Debatte um Scholz Zukunft als Kanzlerkandidat befeuern.

Der Politikwissenschaftler der "Blätter für deutsche und internationale Politik", Albrecht von Lucke, hält ein vorzeitiges Ende der Ampel nach der Brandenburg-Wahl durchaus für möglich – und damit auch das Ende einer möglichen erneuten Kanzlerkandidatur. Von Lucke geht zwar nicht davon aus, dass die SPD ihren Kanzler stürzen würde, er kann sich aber vorstellen, dass die FDP die Reißleine zieht und die Koalition platzen lässt.

Experten uneins über mögliches Scheitern von Scholz

Bereits jetzt sei Scholz an seinen eigenen Zielen gescheitert, macht von Lucke deutlich. "Olaf Scholz wollte eine neue sozialdemokratische Ära begründen", angesichts der Werte der Ampel im Allgemeinen und der SPD im Speziellen habe Scholz dieses Ziel nicht erreicht.

Ob Scholz schon jetzt ein gescheiterter Kanzler ist, lässt sich aus Sicht des Politikwissenschaftlers aber nicht sagen. "Eine Bewertung von Scholz kann meines Erachtens nur aufgrund der gegenwärtigen Leistungen bei der Lösung von Problemen erfolgen. Und da liegt die Schönheit im Auge des Betrachters."

Was Neugebauer damit meint? "Der eine freut sich über mehr Bürgergeld, der andere ärgert sich über den Wegfall der E-Autoprämie für private Käufer, aber beide könnten sich über die Waffenlieferungen an die Ukraine freuen und sich über die Migrationspolitik ärgern." Kurz: Deutschland ist sehr divers, ebenso die Diskussionen. Das lässt sich auch an dem Abend des Bürgerdialogs in der Berliner ufaFabrik beobachten.

Am Ende nehmen die Bürger Scholz das Wegducken bei manchen Themen offensichtlich nicht krumm. Schön sei es, den Kanzler mal in Aktion zu sehen. Viel charismatischer, als im Fernsehen, sagt eine Besucherin. Die meisten ergreifen die Gelegenheit, ein Selfie mit ihrem Kanzler zu machen, bevor sie in die warme Berliner Sommernacht entschwinden.

Verwendete Quellen

  • Statement von Gero Neugebauer
  • Statement von Albrecht von Lucke
  • Teilnahme am Kanzler-Gespräch in der ufaFabrik
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