Auf Bundesebene, in Ländern und Kommunen gibt es derzeit kaum ein brennenderes Thema als Migration. Eine Forscherin betont im Interview: Wenn die Politik nur auf Abschottung setzt, wertet sie Geflüchtete pauschal ab – und sendet auch an andere Migranten Abwehrsignale.
Der Migrationsgipfel in Berlin zu Beginn der Woche ist gescheitert. Ampel-Regierung und Union konnten sich nicht einigen. Die Schuld schieben sich die Parteien gegenseitig zu. Nur in einem sind sie sich einig: Etwas muss beim Thema Migration geschehen.
Aber was wäre der richtige Weg? Was läuft schon gut, und wie kann man die aufgeheizte Stimmung in der Gesellschaft wieder abkühlen? Eine Einschätzung liefert die promovierte Migrationsforscherin Ramona Rischke vom Deutschen Zentrum für Integrations- und Migrationsforschung.
Politiker übertreffen sich gerade mit Vorschlägen, wie man der irregulären Migration Herr werden kann. Regierung und Opposition stecken dafür sogar die Köpfe zusammen. Was halten Sie von den Ideen, die diskutiert werden?
Ramona Rischke: Anlass des Migrationsgipfels in Berlin war die islamistische Gewalt in Solingen. In der Tat müssen wir uns gute Anti-Radikalisierungsstrategien überlegen. Aber es ist wenig zielführend, jetzt auf allgemeine Migrationsabwehr und Abschottungspolitik zu setzen. Gefährlich ist es auch, Geflüchtete und andere Migrationsgruppen, die oft selbst Ziele der Gewalt und Bedrohung sind, pauschal zum Sicherheitsproblem zu erklären und für alle möglichen Probleme verantwortlich zu machen.
Wie meinen Sie das?
Wir müssen uns mit dieser extremen islamistischen Gewalt auseinandersetzen. Dabei dürfen wir nicht vergessen, dass solche schrecklichen Vorfälle ein Randphänomen sind. Aber wir behandeln sie nicht so. Auch rechte Gewalt und Ideologien gefährden unser Zusammenleben. Wir stellen aber die Migrationsabwehr ins Zentrum der Diskussionen. So werden wir das Problem aber nicht lösen.
Die Union machte zur Bedingung ihrer Teilnahme an dem Migrationsgipfel, dass Migranten pauschal an den Landesgrenzen zurückgewiesen werden. Halten Sie diese Forderung für realistisch?
Menschen haben grundsätzlich das Recht, Asylanträge in Deutschland zu stellen. Jetzt wird diskutiert, Schutzsuchende in haftähnlichen Einrichtungen in der Nähe der Grenzen festzuhalten, um zu prüfen, welches Land für sie zuständig ist. Das fordert allerdings die Bundesregierung. Die Union geht sogar noch darüber hinaus und verlangt pauschale Zurückweisungen. Ich halte das für wenig sinnvoll.
Warum nicht?
Weil es auf europäischer Ebene und auch deutscher Ebene relativ hohe Anerkennungsquoten gibt. Das heißt, ein beträchtlicher Anteil dieser Menschen wird einen berechtigten Schutzstatus zugesprochen bekommen. Die Debatte fokussiert sich aber nur auf Abwehr und Abschottung und erklärt Zuwanderung insgesamt zum Problem. Das erstickt jede konstruktive Diskussion über dieses Thema.
In der Debatte wird auch immer wieder von illegaler oder irregulärer Migration gesprochen. Welcher Ausdruck ist richtig?
Grundsätzlich ist kein Mensch illegal. Es gibt das wichtige Grundrecht auf Asyl. Wenn wir von irregulärer Migration sprechen, meinen wir oft nicht autorisierte Grenzübertritte. Eigentlich sollten Schutzsuchende an den EU-Außengrenzen registriert werden. Das geschieht aber teilweise nicht – beispielsweise aus Kapazitätsgründen. Diese Menschen reisen dann weiter, um in anderen Ländern einen Asylantrag zu stellen. All das wird häufig als illegale Migration bezeichnet, zeichnet aber ein falsches Bild, da viele dieser Menschen später einen anerkannten Schutzstatus bekommen und diese unautorisierten Grenzübertritte im Rahmen von Asylanträgen nicht strafbar sind.
Politik und Gesellschaft scheinen sich in den vergangenen Wochen und Monaten immer einiger geworden zu sein: "Deutschland hat ein Migrationsproblem". Stimmt das?
Das Problem ist, dass wir uns in den vergangenen Jahren erlaubt haben, so alarmistisch und undifferenziert über Migration zu sprechen.
Können Sie das erklären?
Nehmen wir die Fluchtzuwanderung. Wir können uns über den Zugang zu Schutz und gesellschaftlicher Teilhabe unterhalten. Darüber, wie man das international gut organisiert bekommt, wer welchen Teil der Verantwortung trägt und wie man die Verteilung besser organisieren könnte. Aber wir verfallen in Deutschland schnell in Krisennarrative und werfen auch noch alle und alles in einen Topf. Mit der gegenwärtigen Abwehrpolitik will man gezielte Signale gegen mehr Fluchtzuwanderung senden. Damit werten wir Geflüchtete in Deutschland pauschal ab und senden auch anderen migrantischen Gruppen klare Abwehrsignale.
Wie wirkt sich das Ihrer Meinung nach aus?
Die Normalisierung der Migrationsabwehr führt nicht selten zu Menschenrechtsverletzungen an den EU-Außengrenzen, aber auch in der EU. Das hat auch einen Einfluss auf das Wohlbefinden und die Bleibeabsichten von verschiedenen Bevölkerungsgruppen hier in Deutschland. Eine Studie des DeZIM hat jüngst gezeigt, dass sich Menschen unabhängig von ihrer Herkunft Sorgen machen über diese Debatten. Viele Menschen fühlen sich abgewertet, bedroht oder nicht mehr willkommen in ihrem eigenen Land.
Nicht nur in der Hauptstadtpolitik spricht man von einem Migrationsproblem. Auch die Kommunen klagen immer wieder, dass ihre Kapazitäten erreicht oder sogar überschritten seien.
Bei weitem nicht alle Kommunen sind überlastet. Existierende Engpässe sind weniger eine Frage der Zahl an Geflüchteten oder Zugewanderten, sondern wir haben es versäumt, langfristige Strukturen zu schaffen.
Das heißt?
Nehmen wir wieder die Fluchtzuwanderung. Zunächst einmal werden wir nicht überrannt. Diese Vorstellung ist falsch. Sicher gibt es immer wieder Spitzen in den Fluchtbewegungen wie 2022 mit der Eskalation des Ukraine-Kriegs. Aber es ist schon seit Jahren bekannt, dass globale Fluchtursachen anhalten und globale Flüchtlingszahlen stetig zunehmen. Es wäre also sinnvoll, einmal aufgebaute Integrationsinfrastrukturen nach Spitzen in den Ankunftszahlen in langfristige und anpassungsfähige Strukturen zu überführen, die lokale Bedarfe aufgreifen, anstatt sie wie nach 2015 deutlich zurückzubauen.
Zum Thema:
- Ein jüngst veröffentlichte DeZIM-Studie verdeutlicht konkrete negative Auswirkungen der Debatten auf Kommunen, unter anderem weil ihre Integrationsleistungen und Erfolge unsichtbar gemacht werden.
Die Ampelregierung hat in dieser Legislaturperiode bereits einige Maßnahmen umgesetzt, um irreguläre Migration einzudämmen: die Bezahlkarte, verstärkte Grenzkontrollen und Abkommen mit Drittstaaten. Aber anscheinend reicht das nicht aus.
Ich möchte zuerst betonen, dass ich "irreguläre Migration" nicht für unser größtes Problem halte. Auch wurde lange und schmerzhaft an einer Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS) gearbeitet, die ebenfalls darauf ausgerichtet ist, die Zahl der Schutzsuchenden, die in Europa aufgenommen werden, zu reduzieren. Die müsste jetzt erst einmal umgesetzt werden, bevor andauernd neue Maßnahmen gefordert werden. Es gäbe jedoch eine Möglichkeit, irreguläre Migration einzudämmen und zu ordnen, die aber zunächst paradox klingt.
Die wäre?
Menschen wählen irreguläre Zugangswege, weil ihnen reguläre fehlen. Wir müssen deutlich mehr reguläre Migrationskanäle öffnen. Am besten wäre das auf europäischer Ebene, aber ich würde mir mindestens wünschen, dass sich nicht – wie im Augenblick – jeder einzelne EU-Staat einer Abwärtsspirale anschließt, in der Schutz immer mehr ausgehöhlt wird und man sich nicht mehr darum schert, was außerhalb der eigenen Grenzen passiert.
"Häufig ist es das Framing, das zu dieser negativen Stimmung beiträgt."
Die Politik wird auch von der Stimmung in der Bevölkerung getrieben, die Migration immer mehr als Problem ansieht.
Das ist schade, denn allein bei der Integration funktionieren schon viele Sachen gut. Häufig ist es das Framing, das zu dieser negativen Stimmung beiträgt. Nehmen wir nur mal die Diskussionen um den "Jobturbo". Ich finde es gut, wenn Menschen schnell in Arbeit kommen. Dafür gibt es auch hohe Zustimmungswerte in der Bevölkerung. Falsch ist jedoch die Deutung, dass diese Menschen vorher keine Lust gehabt hätten, zu arbeiten.
Zudem haben Studien gezeigt, dass die defizitorientierte, alarmistische und teils aufhetzende Berichterstattung nach 2015 sowie die Diskussionen auf Social Media dazu beigetragen haben, Angst und Hetze gegenüber Geflüchteten zu steigern – bis hin zu gewaltsamen Übergriffen. Und ich habe den Eindruck, dass wir in medialen und politischen Debatten gerade wieder dieselben Fehler machen. Ich halte das für hochgradig problematisch und das bereitet mir Sorgen und Angst.
Migration war auch eines der entscheidenden Themen bei den Landtagswahlen in Sachsen und Thüringen - und bald in Brandenburg. Die AfD konnte unter anderem mit diesem Thema in Thüringen stärkste Kraft werden. Machen Sie sich Sorgen, dass Teile der Bevölkerung nach rechts abrutschen?
Das sind extrem besorgniserregende Wahlergebnisse von einer gesichert rechtsextremen Partei, insofern ja. Es stimmt aber zum Glück nicht, dass die Bevölkerung unterschiedliche Formen der Migration pauschal ablehnt. Es gibt stabil hohe Zustimmungswerte zur Fachkräftezuwanderung, dazu, dass Geflüchtete schnell in Arbeit kommen. Viele sehen Deutschland grundsätzlich in der Verantwortung, Geflüchtete aufzunehmen.
Was muss also geschehen, damit sich die Stimmung wieder ändert?
Wir müssen uns dem anhaltenden Rechtsruck und unterschiedlichen Formen der Radikalisierung in der Breite der Bevölkerung viel sichtbarer entgegenstellen und wieder anders über Migration sprechen. Migration ist nicht die Mutter aller Probleme, auch Fluchtmigration nicht, wir erklären sie aber gerade dazu. Es ist auf jeden Fall eine schlechte Idee, dass die etablierten Parteien rechtsextreme Positionen legitimieren, indem sie selbst immer weiter nach rechts rücken.
Zur Person:
- Dr. Ramona Rischke forscht und arbeitet am Deutschen Zentrum für Integrations- und Migrationsforschung (DeZIM) in Berlin. Ihre Schwerpunkte sind multidimensionale Ursachen und Wirkungen von Migrationsbewegungen sowie sozialer Zusammenhalt im Kontext von Migration und Flucht. Sie promovierte im Bereich der Entwicklungsökonomie und ist seit Juli 2020 Co-Leiterin der Abteilung Migration am DeZIM.
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