Am Donnerstag beginnt der Prozess gegen Israel wegen angeblichem Genozid im Gaza-Streifen. Südafrika hatte das Land angeklagt. Hinter der Klage stecken auch politische Interessen.
Seit Beginn des Krieges im Gaza-Streifen nach dem Massaker der Hamas am 7. Oktober vergangenen Jahres werfen sich Israel und die Hamas gegenseitig Kriegsverbrechen vor. Nun hat Südafrika vor dem Internationalen Gerichtshof Klage gegen Israel wegen Genozid an den Palästinensern im Gaza-Streifen eingereicht. Am Donnerstag beginnt der Prozess in Den Haag. Am Freitag wird sich dann Israel gegen die Anschuldigungen verteidigen.
Welche rechtliche Grundlage hat die Klage?
Grundlage ist die UN-Konvention zu Völkermord von 1948, die 1951 in Kraft getreten ist. Der Straftatbestand beschreibt die gezielte Verfolgung von Bevölkerungsgruppen, die sich durch Sprache, Religion und Traditionen von anderen unterscheiden.
Die Konvention ist eine direkte Reaktion auf den Holocaust durch Nazi-Deutschland während des Zweiten Weltkriegs. Die Anzahl der Opfer spielt bei der Beurteilung durch Gerichte dabei keine Rolle. Entscheidend ist, ob die Täter die Absicht hatten eine bestimmte Gruppe von Menschen ganz oder teilweise zu zerstören.
Warum klagt Südafrika gegen Israel?
Die Klage wegen Völkermord kann von jedem Staat der Welt vorgebracht werden, auch wenn dieser nicht direkt betroffen ist. Zumindest legt Südafrika das so in seiner Begründung der Anklageschrift aus. Völkerrechtsexperte Henning de Vries erklärt gegenüber unserer Redaktion: "Nach Artikel IX kann 'auf Antrag einer der an dem Streitfall beteiligten Parteien dem Internationalen Gerichtshof' die Angelegenheit unterbreiten." Darauf beruft sich Südafrika nun.
Hier stellt sich die Frage, inwiefern Südafrika in seinen Rechten durch das Vorgehen Israels in Gaza verletzt ist. "Südafrika begründet dies damit, dass die Verpflichtungen aus der Völkermordkonvention erga omnes (gegenüber allen) gelten. Dies bedeutet: Die Verletzung der Völkermordkonvention verletzt nicht nur die Betroffenen, sondern auch alle Mitglieder der internationalen Gemeinschaft, zu denen Südafrika gehört." So kommt es, dass Südafrika nun Israel wegen einem Genozid im Gaza-Streifen anklagt.
Welche Beweise bringt die Klägerseite vor?
Südafrika erklärt in seiner 80-seitigen Anklageschrift, Israels Offensive im Gaza-Streifen habe "genozidalen Charakter" und ziele darauf ab, einen Großteil der Palästinenser im Gaza-Streifen zu vernichten. Es würden zahlreiche Zivilisten durch ungezielte Bomben getötet werden und eine Hungersnot durch die anhaltende Blockade und das zurückhalten von Hilfslieferungen in Kauf genommen.
Seit dem Beginn des Krieges seien demnach über 21.000 Palästinenser getötet worden, darunter 7.700 Kinder. Über 355.000 Wohnungen sollen zerstört worden sein. "Israel legt Gaza in Schutt und Asche, tötet, schädigt und zerstört sein Volk und sorgt für Umstände, die darauf abzielen diese Gruppe physisch zu vernichten", so die Anklageschrift.
Um den Tatbestand des Völkermords zu belegen, soll nachgewiesen werden, dass dies unter Vorsatz geschieht, Israel nicht nur versäume einen Genozid zu verhindern, sondern diesen aktiv betreibe. Israel soll nicht zwischen Kombattanten und Zivilisten unterscheiden und beide gleichermaßen töten.
Die Anklageschrift zitiert hierzu unter anderem israelische Politiker wie Finanzminister Bezalel Smotrich oder den nationalen Sicherheitsminister Itamar Ben-Gvir. Letzterer hatte öffentlich erklärt, dass auch jene angegriffen werden sollen, "die feiern, die unterstützen, die Süßigkeiten verteilen – sie sind allesamt Terroristen und gehören vernichtet."
Welche Chance besteht, dass Israel verurteilt wird?
Entscheidend sei laut de Vries, dass der Antrag mit Äußerungen israelischer Politiker be-gründet wird – unter anderem denen von Premierminister Benjamin Netanyahu: "Dies löst einen Druck auf die israelische Regierung aus, sich zu diesem Vorwurf zu verhalten."
Das erkläre auch, warum Israel an der Verhandlung vor dem Internationalen Gerichtshof teilnimmt, obwohl Israel sonst die Zusammenarbeit mit internationalen Organisationen und Institutionen auf einem niedrigen Niveau hält. "Gegenüber dem Erfolg des Antrags ist in jedem Fall festzuhalten, dass sich Israel genötigt sieht, sich zu diesen Vorwürfen zu verhalten", so de Vries.
Inwiefern ist der Vorwurf des Genozids gegenüber Israel gerechtfertigt?
Diese Frage muss laut Völkerrechtsexperte de Vries in einem rechtlichen Verfahren geklärt werden. In jedem Fall komme es darauf an, ob eine Zerstörungsabsicht gegenüber den Palästinensern in Gaza nachgewiesen werden kann. Die Verschmelzung der Hamas mit der Zivilbevölkerung könne zusätzlich als Gegenargument für die Kritik an der unterschiedslosen Form der Kriegführung Israels dienen.
Schließlich sei fraglich, inwieweit die von Südafrika zitierten Aussagen offizieller Stellen Israels als Zerstörungsabsicht gewertet werden können oder in Reaktion auf den 7. Oktober 2023 eine Schockreaktion und darüber hinaus politische Kriegspropaganda darstellten.
"Der Vorwurf eines Völkermords wird leider häufig genutzt, wie auch im Krieg Russlands gegen die Ukraine beobachtet werden kann", so de Vries. Daher sei nicht trotz, sondern gerade wegen des Leids auf allen Seiten fraglich, ob dieser Vorwurf des schlimmsten Verbrechens dieser Welt angemessen und hilfreich ist, um zu einem Ende des Konflikts zu finden. "Eine rechtliche Aufarbeitung aller Ereignisse ist in jedem Fall zu befürworten, aber eine solche Aufarbeitung muss auch den Raum haben, stattfinden zu können."
Welche Motivation steckt hinter der Klage durch Südafrika?
Zwar geht es im Verfahren nun darum zu beweisen, dass Israel tatsächlich einen Völkermord verübt. Dieser Prozess kann sich allerdings über Jahre ziehen. Südafrika hat daher auch einen Antrag auf einstweilige Maßnahmen nach Artikel 41 des IGH-Statuts gestellt. Hiernach kann der Internationale Gerichtshof vorsorgliche Maßnahmen bezeichnen, "die zum Schutze der Rechte jeder Partei getroffen werden müssen".
Die Idee hinter diesem Antrag ist, dass der Internationale Gerichtshof damit dazu gedrängt wird, eine Waffenruhe einzufordern. Damit verfolgt Südafrika also ein politisches Ziel neben der eigentlichen Anklage: Die israelische Militäroffensive soll gestoppt werden. Zuletzt war im vergangenen Dezember im UN-Sicherheitsrat eine Resolution für eine Waffenruhe im Gaza-Streifen am Veto der USA gescheitert.
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Was würde ein verordneter Waffenstillstand bedeuten?
Ein Beschluss des Internationalen Gerichtshof den Militäreinsatz im Gaza-Streifen zu stoppen wäre zwar ein klares Zeichen, allerdings hätte der Ukraine-Krieg gezeigt, dass diese Entscheidungen des Internationalen Gerichtshof auch einfach ignoriert werden können, so Völkerrechtsexperte de Vries. Wirklich durchsetzen kann der Gerichtshof den Beschluss nämlich nicht und ist auf Kooperation der betroffenen Staaten angewiesen.
De Vries weiter: "Die Ziele, gegen die Verantwortlichen für den 7. Oktober 2023 vorzugehen und vor allem die Hamas dauerhaft in Gaza zu schlagen, erscheinen kaum mit den gewählten militärischen Mitteln erreichbar zu sein.
Mit einer offiziellen rechtlichen Order in einem Verfahren auf der Grundlage der Völkermordkonvention droht Israel, die Grundlage für seine bisher vorgebrachte Rechtfertigung seines militärischen Vorgehens zu verlieren." Dann stünden die Verbündeten Israels unter Druck, sich zu ihrem Partner zu verhalten, wenn eine solche Anordnung erfolgen würde.
Verübt die Hamas auch einen Genozid? Wie bewerten Juristen das Massaker am 7. Oktober?
Nicht nur Israel steht im aktuellen Krieg unter Anklage Kriegsverbrechen begangen zu haben, auch die Hamas wird bezichtigt, einen Genozid zu verüben beziehungsweise verübt zu haben. Laut der Meinung von gut 250 Juristen, die sich weltweit in einem offenen Brief erklären, stellt das Massaker durch die Hamas, bei dem 1.400 Menschen getötet wurden, einen Völkermord dar.
Die Begründung: Ziel der Hamas sei es, Israel und das jüdische Volk zu vernichten. Die Juristen erklären, dass die Hamas-Terroristen "offenbar mit der Absicht" handelten, "eine nationale Gruppe - die Israelis - ganz oder teilweise zu vernichten".
Inwiefern ist der Krieg im Gaza-Streifen vergleichbar mit dem Angriffskrieg in der Ukraine?
Kritiker des israelischen Vorgehens im Gaza-Streifen werfen dem Westen Unaufrichtigkeit vor, da dieser den Angriff Russlands auf die Ukraine klar verurteilt habe, nun aber schweige. Völkerrechtsexperte de Vries hält diesen Vergleich für falsch. Der Krieg Russlands gegen die Ukraine sei demnach ein völkerrechtswidriger Angriffskrieg eines Staates gegen einen anderen.
In diesem Krieg stünden territoriale Interessen im Vordergrund, auf deren Grundlage Russland die politische Unabhängigkeit der Ukraine zu bestreiten versucht. "Gegenüber diesem Krieg ist das Vorgehen Israels in Gaza eine Reaktion auf ein grausames Massaker der Hamas an der israelischen Bevölkerung mit über 1.200 Toten. Die militärische Reaktion Israels ist daher grundsätzlich gerechtfertigt, auch wenn sie sich innerhalb völkerrechtlicher Grenzen zu bewegen hat."
Über den Gesprächspartner
- Dr. Henning de Vries ist Geschäftsführer am Internationalen Forschungs- und Dokumentationszentrum Kriegsverbrecherprozesse (ICWC).
Verwendete Quellen
- Gespräch mit Henning de Vries
- zdf.de: Genozid-Vorwürfe: Das sagen Rechtsexperten
- lto.de: Selbstverteidigung oder Völkermord?
- ijc-cij.org: Anklageschrift gegen Israel
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