Von einem Aus für die Große Koalition will selbst Juso-Chef Kevin Kühnert bei "Anne Will" nicht mehr viel wissen. Doch gemeinsame Projekte für Union und SPD in der verbleibenden Legislaturperiode? Fehlanzeige!

Eine Kritik

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"Lassen Sie mich bitte ausreden!" Dieser Satz fällt am Sonntagabend bei Anne Will gleich ein paar Mal. Das Thema mag wenig überraschend sein, zu diskutieren haben ihre Gäste aber einiges: Die SPD hat das Aus der Großen Koalition auf ihrem Parteitag am Wochenende zwar noch einmal abgewendet.

Doch die Partei ist mit der Wahl von Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans als neues Führungsduo deutlich auf einen Linkskurs eingeschwenkt. Passt das noch zur "GroKo" mit CDU und CSU? Dieser Frage will Anne Will nachgehen.

Wer waren die Gäste bei "Anne Will"?

Kevin Kühnert: Der Vorsitzende der SPD-Jugendorganisation hat in der vergangenen Woche für Verwirrung gesorgt: Eigentlich gilt er als strengster GroKo-Kritiker seiner Partei. Dann erklärte er aber, ein Ausstieg aus dem Bündnis sei kein Selbstzweck.

Ja, was denn nun? Kühnert will, dass seine Partei "ergebnisoffene Gespräche" mit der Union über weitere Projekte führt. Dann müsse sie aber auch entscheiden, wie es weitergehen soll.

Paul Ziemiak: Der CDU-Generalsekretär fordert vom sozialdemokratischen Koalitionspartner, mit der "permanenten Selbstbeschäftigung" aufzuhören. SPD-Ideen wie einem höheren Mindestlohn oder einer Vermögenssteuer erteilt er eine deutliche Absage: "Über diese Fragen brauchen wir überhaupt nicht miteinander zu sprechen", stellt Ziemiak klar.

Cerstin Gammelin: Die Hauptstadt-Korrespondentin der Süddeutschen Zeitung lobt die SPD dafür, dass sie auf ihrem Parteitag ein Investitions- mit einem neuen Sozialstaatsprogramm verknüpft habe. Die Umbrüche im Bankenwesen oder in der Automobilindustrie würden viele Jobs bedrohen – deswegen müsse der Staat zum Beispiel mehr Geld für Bildung ausgeben, findet Gammelin: "Es ist klug, diese Investitionen auf die Tagesordnung zu setzen."

Jagoda Marinic: Die Publizistin und Leiterin des Interkulturellen Zentrums in Heidelberg zeigt sich enttäuscht von der SPD: Von den radikalen Versprechen während des Mitgliederentscheids zur neuen Parteiführung sei nicht viel übriggeblieben: "Jetzt stehen sie da und binnen weniger Tage wird alles kleingeschrumpft."

Clemens Fuest: Der Leiter des ifo-Instituts in München sieht die Sache genau andersherum: "Ich finde es bemerkenswert, dass die Vorsitzenden relativ konstruktiv an die Sache herangegangen sind", meint der Wirtschaftswissenschaftler. "Das eröffnet ganz überraschend die Chance, dass vielleicht doch noch etwas herauskommt, was dieses Land nach vorne bringt."

Was war das Rede-Duell des Abends?

Jagoda Marinic bekommt leider nur zwei Mal das Wort – sie nutzt die beiden Gelegenheiten aber jeweils für beherzte Statements. Sie weist darauf hin, dass immer mehr Senioren auf die Tafeln angewiesen seien, um sich mit Lebensmitteln zu versorgen: "Das zu verhindern wäre keine linke Revolution, das wäre eine soziale Marktwirtschaft, die anständig wäre."

Der Hinweis von Marinic, sogar im hochkapitalistischen Kalifornien werde über einen Mindestlohn von umgerechnet 13,50 Euro diskutiert, ruft CDU-Politiker Ziemiak auf den Plan: "Sie zeichnen gerade ein Bild, was völlig unrealistisch ist", meint er: Kaum ein Staat der Welt habe ein so großzügiges Sozialsystem wie Deutschland.

Marinic überzeugt das nicht. Sie meint: "Wir könnten es uns leisten, dass alle Menschen Lebensmittel haben."

Wie hat sich Anne Will geschlagen?

Die Moderatorin neigt in ihren Sendungen manchmal dazu, ihre Diskussionen etwas fahrig zu führen und sich in langen Fragen zu verlieren. An diesem Abend ist das nicht der Fall. Sie versucht, die beiden Politiker Kühnert und Ziemiak in die Zange zu nehmen.

Sogar beim Juso-Chef, der sich eigentlich aus jeder unangenehmen Situation herausreden kann, gelingt ihr das einmal: Die Journalistin erinnert ihn an seine Aussage bei N-TV, wonach die Gespräche zwischen SPD und Union über neue Projekte nicht länger als die Koalitionsverhandlungen dauern dürften.

Will rechnet vor: Die Verhandlungen dauerten zwei Wochen – also müsste die SPD nach Kühnerts Wunsch noch vor Weihnachten geklärt haben, was es mit CDU und CSU zu klären gibt. Da muss Kühnert zurückrudern: "Das ist tatsächlich eine unpräzise Formulierung gewesen."

Was ist das Ergebnis?

Zwei Lehren drängen sich auf: Erstens scheint die SPD mit ihrem Ruf nach mehr Investitionen und höheren Löhnen auch über ihre Parteigrenzen hinaus Gehör zu finden. Journalistin Gammelin unterstützt die Forderung mehrmals.

Selbst Wirtschaftswissenschaftler Fuest kritisiert den Vorschlag, den Mindestlohn auf zwölf Euro pro Stunde zu erhöhen, nur sehr verhalten: "Ich sage: Vorsicht, das Risiko ist groß!" Ein höherer Mindestlohn könne auch Arbeitsplätze gefährden, meint der Experte.

Eine kategorische Ablehnung hört sich aber anders an. Kein Wunder: Seine Zunft hatte schon bei der Einführung des Mindestlohns Schreckensszenarien an die Wand gemalt, die dann nicht eingetreten sind.

Eine zweite Lehre: So richtig rund wird die GroKo wohl auch im Rest der Legislaturperiode nicht laufen. Die SPD ist nach dem Parteitag mit sich im Reinen – Kevin Kühnert erzählt vom besonders emotionalen Moment, als die Delegierten einstimmig ein neues Sozialstaatskonzept beschlossen und damit "diesen Mist" Hartz IV beerdigten.

Doch klar scheint auch, dass die Sozialdemokraten mit der Union ihre neuen Ideen nicht umsetzen können. "Kevin und Paul" mögen zwar per du sein. Welche gemeinsamen Projekte oder gar Visionen Kühnert und Ziemiak beziehungsweise ihre Parteien in Zukunft noch verbinden, bleibt reichlich schleierhaft.


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