Bundeskanzler Olaf Scholz hat am Sonntagabend eine Rede an die Nation gehalten. Thema: das Kriegsende vor 77 Jahren, der Ukraine-Krieg und die Rolle Deutschlands. Das war dann auch kurze Zeit später Thema bei "Anne Will" und da gerieten sich ein Philosoph und ein Diplomat ganz undiplomatisch in die Haare.
Nach langem Zögern kündigte die Bundesregierung erst an, der Ukraine mit Gepard-Panzern helfen zu wollen, nun will sie auch sieben Panzerhaubitzen zur Verfügung stellen. Gleichzeitig werden Stimmen laut, genau das nicht zu tun. Dementsprechend stellt Anne Will am Sonntagabend die Frage: "Mehr Waffen für die Ukraine – ist das der Weg zum Frieden?"
Mit diesen Gästen diskutierte Anne Will:
- Harald Welzer. Soziologe Welzer ist Mitunterzeichner des offenen BOb Sie das wollen oder nicht riefs an Bundeskanzler
Scholz , in dem dieser unter anderem aufgefordert wird, keine schweren Waffen an die Ukraine zu liefern. BeiWill erklärt Welzer, dass durch jede weitere Forderung nach Waffen und deren Lieferung eine Eskalationsdynamik in Gang gesetzt werde, die irgendwann nicht mehr zu kontrollieren sei. "Wir haben bei allen kriegerischen Auseinandersetzungen der modernen Kriege immer eine Eskalation der Gewalt." Stattdessen gebe es neben Waffenlieferungen noch eine weitere Möglichkeit, nämlich Verhandlungen. Es solle einen Waffenstillstand geben und "einen Kompromiss, den beide Seiten akzeptieren können." Kevin Kühnert . Der SPD-Generalsekretär erklärt, dass Scholz mit seiner Rede den Kurs, den er seit Tag eins verfolgt hat, beibehält. Man werde Putin sanktionieren, aber dabei im Blick behalten, sich "nicht selbst ins Knie zu schießen". "Es ging der Bundesregierung nie um ein prinzipielles Ja oder Nein zu schweren Waffen", denn an der Beschaffung schwerer Waffen sei die Bundesregierung von Anfang an mittelbar beteiligt, so Kühnert.- Britta Haßelmann. Die Fraktionsvorsitzende von Bündnis 90/ Die Grünen hat eine eindeutige Sicht auf den offenen Brief von Welzer und Co.: "Als ich das gelesen habe und die ersten Einlassungen darüber gehört habe, habe ich gedacht: Ich halte das für anmaßend. Weil ich gedacht habe: Was soll das für ein Kompromiss sein?"
- Ruprecht Polenz (CDU). Polenz, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Osteuropakunde e. V., hat einen Gegenentwurf zu Welzers Brief unterschrieben und fordert von der Bundesregierung aktive Hilfe: "Wenn man das Ziel hat: Die Ukraine darf diesen Krieg nicht verlieren, dann hoffe ich, dass die Bundesregierung eine sehr aktive Rolle – auch im Bündnis – spielt, damit die Nato, damit die westlichen Partner gemeinsam mit Deutschland das Notwendige tun, was sie können, ohne selbst Kriegspartei zu werden."
- Andrij Melnyk. Der Botschafter der Ukraine in der Bundesrepublik Deutschland wartet auf die Einhaltung der Versprechen der Bundesregierung, zweifelt aber, ob die benötigte Hilfe kommen wird. Von Scholz’ Rede habe er sich Konkreteres gewünscht. Über das von Scholz verwendete "Nie wieder", sagt Melnyk: "Diese Erinnerungspolitik Deutschlands wird heute ganz konkret in der Ukraine auf den Prüfstand gestellt."
Darüber diskutierte die Runde bei "Anne Will":
"Nie wieder Krieg, nie wieder Völkermord, nie wieder Gewaltherrschaft. (…) In der gegenwärtigen Situation kann dies nur bedeuten: Wir verteidigen Recht und Freiheit an der Seite der Angegriffenen. Wir unterstützen die Ukraine im Kampf gegen den Aggressor. Wir helfen, damit die Gewalt ein Ende finden kann." Anne Will nimmt Zitate aus der Rede von Olaf Scholz als Ausgangspunkt für ihre Fragen.
Harald Welzer findet die Rede Scholz’ "hochgradig indifferent"; für Kevin Kühnert ist sie hingegen eine Fortsetzung des bisherigen Weges. Melnyk schließt aus Scholz’ Worten, dass die Bundesregierung nun auch handeln müsse. Denn wenn der Kanzler sagt, dass Putin nicht gewinnen dürfe, dann müsse man "Himmel und Erde in Bewegung setzen, um der Ukraine zu helfen."
Dann stehen natürlich die beiden offenen Briefe zur Diskussion, deren Mitunterzeichner am Sonntagabend ihre jeweiligen Argumente darlegen. Harald Welzer sieht durch Waffenlieferungen eine Eskalationsspirale in Gang gesetzt. Außerdem warnt der Soziologe: "Ein Krieg gegen eine Atommacht kann nicht gewonnen werden." Man befinde sich in einem Dilemma, denn es gebe kein richtig oder falsch in dieser Situation.
Dem widerspricht Ruprecht Polenz an vielen Fronten: Niemand wolle eine Eskalation, aber: "Sie schlagen einen Weg vor, der das Gegenteil bewirken könnte", widerspricht Polenz Welzer. "Die These, eine Atommacht könne keinen Krieg verlieren, ist falsch", erklärt Polenz weiter und verweist unter anderem auf den Vietnamkrieg und Afghanistan. Putin drohe jetzt mit dem Einsatz von Kernwaffen. "Wenn wir nicht wollen, dass eine Atommacht die Charta der Vereinten Nationen, das Nicht-Angriffsgebot, permanent verletzt, weil jeder Angst hat, Widerstand zu leisten, dann darf er jetzt keinen Erfolg damit haben", so Polenz.
Der Schlagabtausch des Abends Teil eins:
Harald Welzer gegen Adrij Melnyk. Dass Melnyk seit Wochen um Unterstützung für sein Land kämpft, ist bekannt, auch, dass er dabei kein Blatt vor den Mund nimmt. Und so macht er es auch am Sonntagabend bei "Anne Will". Als Welzer neben der "Logik der Gewalt" auch die "Logik der Diplomatie" fordert, wird der Diplomat ganz undiplomatisch: "Es ist eine völlige Illusion, was sie und ihre Kollegen da anbieten", erklärt Melnyk und wird dann persönlich: "Es ist einfach jetzt für Sie da in Ihrem Professorenzimmer zu sitzen und zu philosophieren …" "Nicht diskreditieren, Herr Melnyk!", geht Anne Will kurz dazwischen, ehe Melnyk weiterredet, dass eine solche Kapitulationsforderung inakzeptabel sei.
Als Melnyk mit den Worten schließt: "Das, was Sie anbieten, ist aus unserer Sicht moralisch verwahrlost", sieht sich Welzer zur Gegenattacke gezwungen: "Mir fällt das häufig auf, dass Sie unglaublich offensiv mit Gesprächspartnern umgehen", beginnt Welzer seine Maßregelung und spricht von den Kriegserfahrungen deutscher Familien als Grund für die Angst vor einer Eskalation. "Bleiben Sie mal beim Zuhören und nicht beim Kommentieren", fährt Welzer Melnyk bei einer Zwischenbemerkung an, doch der revanchiert sich und wirft Welzer Belehrungswillen vor: "Ich bin kein Student!"
Der Schlagabtausch des Abends Teil zwei:
Harald Welzer gegen Ruprecht Polenz. Einige Minuten später erklärt Welzer noch einmal seine These der Eskalationsdynamik und der Entgrenzung des Krieges. Es gehe ihm darum, dass die Kriegsparteien einen Weg finden, über einen Kompromiss zu reden. Außerdem herrsche "völlige Unklarheit über Kriegsziele".
Da gehen erst Kevin Kühnert und dann auch Ruprecht Polenz dazwischen. "Die Kriegsziele sind ja klar durch die Erklärung von Herrn Selenskyi. Ich hab' das vorhin gesagt, vielleicht hatten Sie da gerade nicht zugehört", fährt Polenz Welzer an. Putin dürfe keinen Erfolg haben und alles, was er nach dem 24. Februar erobert hat und was er behalten könnte, wäre ein Erfolg. "Das ist nicht so schwer zu verstehen", wird Polenz vehement.
"Was wäre denn, wenn er Erfolg hätte?", fragt Polenz weiter. Denn wenn man Welzers Rat folgte, käme man erst recht in Eskalationsgefahren hinein, so Polenz. "Alles, was Putin aus seiner Sicht in diesem Krieg gewinnt, ermutigt ihn, weiterzumachen nach dem Motto: ‚Ich drohe mit Atomwaffen‘", erklärt Polenz und schlägt die Brücke nach Polen und ins Baltikum: "Glauben die dann noch an die Abschreckungskraft der Nato? Vor allem: Glaubt Putin dann noch daran, dass wenn ein Nato-Land angegriffen wird, diese Logik dann auf einmal nicht mehr gilt? Dann haben Sie in der Tat einen Zusammenbruch des Sicherheitssystems, was in einer Weise eskalieren kann, was wir uns heute nicht vorstellen können."
Das Fazit:
Es war eine erstaunliche, weil erstaunlich direkte Diskussion, bei der ganz unverblümt gesprochen wurde. Hebt man die Tatsache, dass ein Diplomat derart undiplomatisch spricht, auf eine persönliche Ebene, könnte man daraus Einiges über den Frust und die Verzweiflung Melnyks im Kampf um Unterstützung für sein Land herauslesen. Ebenso aber auch Trotz und Pragmatismus, als er sich abermals an Harald Welzer wendet: "Egal, was Sie tun – die Amerikaner, die Briten und viele andere Staaten, auch in Osteuropa, tun das und werden auch noch mehr tun. Das heißt: Ob Sie das wollen oder nicht – wir werden weiter kämpfen und wir werden Unterstützung bekommen von den Partnern und Freunden, die bereit sind, das zu tun."
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