Hält die GroKo bis 2021? Hat AKK ihre Chance, Kanzlerin zu werden, schon verspielt? Und müssen wir die SPD jetzt endgültig abschreiben? Im Interview mit diesem Portal ordnet Politikwissenschaftler Werner Weidenfeld die politische Großwetterlage in Deutschland ein.
Bei der Europawahl haben Union und SPD deutlich an Stimmen verloren. Aktuelle Umfragen sehen die Grünen gar als stärkste Kraft. Ist das Konzept der Volksparteien am Ende, wie es oft heißt?
Werner Weidenfeld: Das Erklärungsmodell passt nicht mehr in unsere Zeit. Die Strukturen der Volksparteien sind in enger Bindung an soziologische Gruppen wie Arbeiter, Katholiken, Gewerkschaftler und Unternehmer gewachsen. Diese gruppenorientierte Bindung der alten Gesellschaft hat sich heute aufgelöst, sie ist nur noch ein Nachhall. Wir haben es mit einer veränderten Gesellschaft zu tun, in der es keine Volksparteien und kein links und rechts mehr gibt, sondern ein fluides Stimmungsmilieu.
Was bedeutet das?
Auch eine Terminologie wie "konservativ" und "progressiv" lässt sich nicht mehr einsetzen. Die Natur bewahren – ist das konservativ oder progressiv? Unsere westliche Politik ist überfordert, da sie die gewohnten Erklärungs- und Deutungsleistungen nicht mehr erbringen kann. In früheren Jahrzehnten konnte man mit dem Verweis auf ein ideologisches Gegenbild die Deutung liefern, das geht heute nicht mehr.
Wie muss man politisch mit dieser Entwicklung umgehen?
Was heute stattfindet, ist lediglich situatives Krisenmanagement. Wir brauchen wieder Erklärungen und Perspektiven, wie unsere Gesellschaft mittelfristig aussehen soll. Das erfahre ich als Wähler von den Parteien aber nicht, sie diskutieren meist nur oberflächliche Themen, wie etwa den Mindestlohn. Das wiederum löst Frustration aus, die sich in Form von Nichtwählern oder Anhängern populistischer Parteien materialisiert.
Ihr Ratschlag?
Regierungen brauchen Überschriften, so wie
Und die GroKo, wird die auch fluide oder hält sie erst einmal?
In der aktuellen Lage lässt sich gar nichts ausschließen, was aber kalkulierbar ist: Parteien organisieren nicht ihre eigene Niederlage. Denn gäbe es Neuwahlen, würden wohl bis auf die Grünen und die AfD alle anderen Parteien verlieren. Bei allen aufgeregten Schlagzeilen ist der Drang, die GroKo fortzuführen, somit doch relativ groß. Aber natürlich wird diskutiert, ob
Und, hat sie?
Sie hat zwar bisher keinen großen Aufbruch geleistet und keine Klarheit für die CDU erbracht, ein Gesamturteil kann man aber noch nicht fällen. Mit der Übernahme des Parteivorsitzes ist sie plötzlich in eine ganz andere Dimension der öffentlichen Wahrnehmung geraten. Ihre Aktionsweisen werden als potenzielle Kanzlernachfolgerin anders eingeordnet als als Lokalpolitikerin im Saarland, da muss sie noch dazulernen. Dass eine Kanzlernachfolgerin aus der CDU kommt und AKK heißt, ist beides aktuell nicht unwahrscheinlich.
Viele ehemalige SPD-Wähler sehen heute in den Grünen eine politische Alternative. Hat die SPD überhaupt Potenzial, noch einmal groß zu werden?
Wie gesagt: Das Stimmungsmilieu ist fluide - wie in einem Ozean bewegt sich alles hin und her und Wellen können aus unterschiedlichen Richtungen kommen. Deshalb können Parteien jederzeit wieder großgefahren werden. Mit Martin Schulz haben wir gesehen, dass mit einem neuen Spitzenkandidaten die Umfragen in den Himmel gehen, aber ebenso schnell wieder abstürzen können.
Ist das gut oder schlecht?
Viele finden Politik auch interessanter, wenn sie nicht so betoniert ist. Weil es keine stabilen Blöcke mehr gibt, finden wir auch die einstige begeisterungsfähige Bindung nicht mehr vor. Trotzdem wird es erst einmal keinen Zeitpunkt geben, an dem man sagen könnte, die SPD ist endgültig überholt. Um Erfolg zu haben, bräuchte die SPD ein neues Tandem wie einst Willy Brandt und Egon Bahr - charismatisch-magnetische Führungstypen mit strategischem Kopf.
Auf strategische Überlegungen legen Sie sehr viel Wert. Warum?
Ein Blick in die Vergangenheit lohnt, denn eine strategische Perspektive war schon einmal erfolgreich: als Europa in den 80er Jahren in einer großen Krise steckte. Damals war von Niedergangsszenarien verbunden mit dem Begriff der Eurosklerose die Rede - Europa war angeblich unheilbar krank. Die Staatsmänner Mitterand und Kohl haben maßgeblich zur Rettung beigetragen. Sie haben erkannt, dass ein strategischer Kopf notwendig ist und ihn in Frankreichs damaligem Finanzminister Jacques Delors gefunden. Mitterand und Kohl haben ihn darum gebeten, eine Strategie für Europa zu entwickeln und ihm im Gegenzug zugesichert, dass sie ihn zum europäischen Kommissionspräsidenten machen würden, damit er seine Ideen umsetzen kann.
Und das fehlt heute?
Reformvorschläge von Macron bis Juncker weisen nie diese eine große Perspektive auf, sie machen hingegen über zwanzig Vorschläge, bei denen jeder Nationalstaat an irgendeiner Stelle Einwände hat, sodass nichts umgesetzt wird.
"So arbeitet die Redaktion" informiert Sie, wann und worüber wir berichten, wie wir mit Fehlern umgehen und woher unsere Inhalte stammen. Bei der Berichterstattung halten wir uns an die Richtlinien der Journalism Trust Initiative.