Die EU blickt mit Sorge auf die Parlamentswahlen in Polen. Bei einem erneuten Sieg der Regierungspartei PiS wird befürchtet, dass die Partei die polnische Demokratie weiter abbaut. Doch es gibt auch Hoffnung.

Eine Analyse
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Wenn am 15. Oktober 2023 in Polen gewählt wird, blickt ganz Europa auf die noch junge Republik. Die Wahlen werden mit darüber entscheiden, ob nach Ungarn das zweite Land in der EU in ein autokratisches System abgleitet.

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Die PiS arbeitet seit 2015 kontinuierlich daran, die Demokratie in Polen auszuhebeln, indem sie Medien und Gerichte unter ihre Kontrolle bringt. Bei den Wahlen stimmen rund 30 Millionen wahlberechtigte Polen darüber ab, ob sie diesen Kurs weiterfahren darf.

Katharina Barley, Vizepräsidentin des EU-Parlaments und SPD-Spitzenkandidatin bei der Europawahl, warnt im Gespräch mit unserer Redaktion: "Sollte die PiS die Wahlen gewinnen, fürchte ich einen weiteren Abbau der Rechtsstaatlichkeit in Polen."

PiS macht im Wahlkampf Stimmung gegen die EU

Barley vergleicht die Methoden der PiS mit denen Viktor Orbans in Ungarn: "Die PiS hat, wie auch Orbans Partei Fidesz in Ungarn, das Ziel, dass sie nie wieder von der Macht verdrängt werden kann." Dabei versucht sie, Medien und Gerichte unter ihre Kontrolle zu bringen. Die EU wehrt sich gegen das Untergraben der Demokratie und verweigert Polen den Zugang zu fast 36 Milliarden Euro aus dem Corona-Wiederaufbaufonds.

Die PiS versucht dieses Vorgehen wiederum zu nutzen, um die Erzählung von der erpresserischen EU als Feindbild zu verbreiten. So sprach beispielsweise Polens Ministerpräsident Mateusz Morawiecki davon, dass Polen eingekreist sei, im Osten von der Gruppe Wagner und im Westen von der Gruppe Weber. Gemeint ist Manfred Weber von der CSU, der Fraktionsvorsitzender der konservativen EVP im Europaparlament ist. "Dieser vermeintliche Zangenangriff sollte ein Bedrohungsgefühl in der Bevölkerung auslösen, mit dem die PiS Wahlkampf macht", erklärt Politikwissenschaftler Pawel Karolewski, der die Entwicklung in Polen beobachtet, unserer Redaktion.

Modell Orban – Medien geraten immer mehr unter Druck

Er sieht vor allem die zunehmende Einflussnahme der Regierung auf die polnische Medienlandschaft als Problem. Noch sei die Situation zwar nicht so schlimm wie in Ungarn. Dort kontrolliert die Fidesz 90 Prozent der Medien, in Polen ist nur etwa die Hälfte unter Kontrolle der PiS. Seit die PiS regiert, seien vor allem die sogenannten öffentlich-rechtlichen zu "Propaganda-Maschinen geworden, wie ich es mir noch vor zehn Jahren nicht hätte vorstellen können", sagt Karolewski.

Aber auch private Medien geraten immer mehr unter Druck. Barley zieht auch hier Parallelen zu Orbans Ungarn: "Staatliche Kohleunternehmen kaufen Zeitungsverlage auf, und man fragt sich, was das eine mit dem anderen zu tun hat. Das ist das ungarische Modell", kritisiert Barley.

Nachdem der Energiekonzern Orlen die 120 polnischen Wochenzeitungen und 500 polnischen Internetportale der Verlagsgruppe Passau übernommen hat, stellte Karolewski eine deutliche Veränderung in der Berichterstattung fest, die er als "Gleichschaltung" bezeichnet: "Ich verwende diesen Begriff bewusst. Weil es nicht um eine subtile Veränderung im Ton geht, sondern um echte Propaganda", erklärt er.

Bespitzelung und Druck auf Gerichte

Doch die Kontrolle über Teile der Medien ist nicht die einzige Methode, mit der sich die PiS bei den Wahlen einen unfairen Vorteil verschafft. Führende Oppositionspolitiker werden vom Geheimdienst bespitzelt. Ihre mobilen Telefone wurden überwacht und Gespräche mitgehört - auch mitten im Wahlkampf.

Sogar das Vertrauen in den Wahlprozess hat wegen der PiS gelitten. Bei den letzten Wahlen gab es Zweifel, ob die Stimmen von im Ausland lebenden Polen fair gezählt wurden. Diese wählen häufiger die Opposition, weshalb die PiS ein Interesse daran hat, die Wahl dort zu behindern, zum Beispiel, indem Briefwahlunterlagen nicht rechtzeitig ausgestellt werden.

Klagen gegen die Benachteiligung bei den Wahlen blieben wirkungslos. Die PiS hat eine neue Kammer beim Obersten Gericht installiert, die über die Legalität von Wahlen entscheidet: "Diese Kammer ist nur mit Leuten besetzt, die die PiS bestimmt hat, und wird vom EuGH in einem Urteil von 2021 als illegal berufen angesehen", sagt Karolewski.

Opposition hat die Hoffnung noch nicht aufgegeben

Trotzdem macht er klar, dass die Wahlen in Polen noch weitestgehend regulär ablaufen: "Die Wahlen wurden bislang nicht im großen Stil gefälscht, wie etwa in Russland oder Belarus." Die Opposition hat also weiterhin die Chance, der PiS bei den Parlamentswahlen die Macht zu entreißen.

Vor allem jüngere Polen sehen vieles kritisch, wofür die PiS steht, zum Beispiel die verschärften Abtreibungsrechte, Einschränkungen der LGBTQ-Rechte und den antieuropäischen Kurs der Regierung. Bei den Parlamentswahlen 2019 gaben nur 26 Prozent der 19- bis 29-Jährigen der PiS ihre Stimme. In der Gesamtbevölkerung waren es 43,8 Prozent. In Umfragen liegt die PiS aktuell zwischen 35 und 40 Prozent und damit unter dem Ergebnis von 2019.

Der Vorsprung auf die zweitplatzierte KO von Ex-EU-Ratspräsident Donald Tusk beträgt aber immer noch über fünf Prozentpunkte. Es komme laut Karolewski darauf an, ob die kleineren Wahlbündnisse, wie die linke Lewica oder der konservative "Dritter Weg", den Einzug ins Parlament schaffen.

Für sie gilt im Parlament nämlich eine Acht-Prozent-Hürde: "Wenn diese verfehlt wird, verteilen sich deren Stimmen auf die stärksten Parteien und damit hauptsächlich auf die PiS, die wahrscheinlich die größte Parlamentsfraktion stellen wird. Dann könnte die PiS selbst mit nur 37 bis 38 Prozent der Stimmen möglicherweise wieder allein die Regierung bilden", befürchtet Karolewski.

Sollte es der PiS nicht zur absoluten Mehrheit reichen, könnte es zu einer Zusammenarbeit mit einzelnen Abgeordneten der rechtsextremen und russlandfreundlichen Konfederacja kommen, die in Umfragen bei rund zehn Prozent steht.

Bringt die Visa-Affäre die PiS zu Fall?

Noch nicht abzuschätzen ist, ob die Visa-Affäre der PiS im Wahlkampfendspurt schaden wird. Das von der PiS geleitete Außenministerium soll hunderte Arbeitsvisa an Arbeitsmigranten verkauft haben, um sich selbst zu bereichern. Laut Karolewski ein "schlimmer Fall von systemischer Korruption, bei der jahrelang Menschen aus Afrika und Asien ausgebeutet worden sind".

Für die PiS, die sich sonst damit profiliert, hart gegen Migranten vorzugehen, ist der Vorwurf brisant. Auch Olaf Scholz, der sich bislang aus diplomatischen Gründen mit Kritik an der PiS zurückhielt, fand dagegen klare Worte. Es gehe nicht, dass "Visen, die für Geld verteilt worden sind", die EU-Asylpolitik behinderten, sagte Scholz bei einer Rede im bayrischen Wahlkampf in Nürnberg.

In der EU hat die Affäre zu einem weiteren Ansehensverlust der PiS beigetragen. Innenpolitisch versucht die Partei, den Schaden noch abzuwenden: "Die PiS stellt die Visa-Affäre in den Staatsmedien aktuell so dar, als sei nicht sie, sondern die Opposition dafür verantwortlich", sagt Karolewski.

Wie weiter mit der PiS?

Deshalb bleibt es unwahrscheinlich, dass nach den Wahlen eine Regierung gegen die PiS gebildet werden kann. Für die EU stellt sich die Frage, wie man mit einem Polen umgeht, das immer weiter in eine Autokratie abgleitet.

Schließlich hat Polen sich in anderen Bereichen durchaus verdient gemacht, wie Nyke Slawik (Grüne) von der deutsch-polnischen Parlamentariergruppe im Bundestag betont: "Ich habe Hochachtung vor dem, was Polen für den Europäischen Zusammenhalt in den letzten anderthalb Jahren geleistet hat: Kein anderes Land in Europa hat so viele Geflüchtete aus der Ukraine aufgenommen", sagt die Grüne auf Anfrage unserer Redaktion.

Sie wirbt trotzdem dafür, den Abbau der Demokratie weiterhin klar anzusprechen. Schließlich sei das eine Debatte, die auch in Polen "sehr intensiv geführt" werde. Das zeigte auch der von der Opposition organisierte "Marsch der Millionen Herzen" für Demokratie und Rechtsstaatlichkeit am 1. Oktober. Allein in Warschau gingen über 100.000 Menschen auf die Straße.

Über den Gesprächspartner:

  • Pawel Karolewski ist Politikwissenschaftler an der Universität Leipzig.

Verwendete Quellen:

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