Über eines der wichtigsten Gesetzespakete der vergangenen Jahre wird heute im EU-Parlament abgestimmt – die EU-Asylreform. Für manche ist es der große Wurf, für andere das Ende des Asylrechts in der EU.
Das Europaparlament stimmt am Mittwochnachmittag (17 Uhr) abschließend über die Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (Geas) ab. Nach jahrelangem Streit will die EU damit die Lehren aus den Jahren 2015 und 2016 ziehen, als mehr als eine Million Menschen alleine nach Deutschland kamen.
Faeser hofft auf Zustimmung zur EU-Asylreform
Bundesinnenministerin
Für Europa stehe viel auf dem Spiel, warnte sie. Offene Grenzen im Inneren könne es nur geben mit einem starken Schutz der EU-Außengrenzen. "Diesen Schutz und geordnete Asylverfahren erreichen wir mit den neuen Regelungen. Bis diese greifen, werden wir unsere Grenzen national kontrollieren müssen. Das ist derzeit notwendig, um Schleuser zu stoppen und irreguläre Migration zu begrenzen." Bereits länger angekündigt sind Grenzkontrollen während der Fußball-EM, die Mitte Juli endet.
Faeser sagte, nach dem neuen EU-System müsse jeder Migrant künftig an den Außengrenzen strikt kontrolliert und registriert werden. "Wer nur geringe Aussicht auf Schutz in der EU hat, wird ein rechtsstaatliches Asylverfahren an den Außengrenzen durchlaufen und im Fall einer Ablehnung von dort zurückkehren müssen. Nur so können wir weiterhin die Menschen schützen, deren Leben von Krieg und Terror bedroht ist."
Worum geht es bei der Reform?
Im Kern geht es bei den Gesetzestexten um schärfere Asylregeln. Hauptankunftsländer wie Italien oder Griechenland sollen entlastet werden. Die Asylagentur der Europäischen Union hatte im vergangenen Jahr rund 1,1 Millionen Anträge verzeichnet, den höchsten Wert seit 2016. Mit rund 330.000 entfiel ein Drittel dieser Anträge auf Deutschland.
Was ist an Europas Außengrenzen vorgesehen?
Erstmals soll es dort Asylverfahren geben, um Migranten mit geringen Aufnahmechancen an der Weiterreise zu hindern. Dies betrifft etwa Menschen aus Marokko, Tunesien oder Bangladesch, die eine höchstens 20-prozentige Anerkennungsquote in der EU haben.
In die Grenzverfahren kommen zudem Migranten, die als Sicherheitsgefahr eingestuft werden, oder die Behörden in die Irre geführt haben, etwa mit einem falschen Pass. Betroffene sollen einen kostenlosen Rechtsbeistand erhalten.
Was passiert bei den Grenzverfahren?
Die Migranten sollen in Grenznähe festgehalten und von dort aus direkt abgeschoben werden. Juristisch werden sie als nicht in die EU eingereist betrachtet. Das Asylverfahren und die Rückführung sollen im Regelfall bis zu zwölf Wochen dauern. Die Mitgliedsländer wollen zunächst 30.000 Plätze in Grenzlagern schaffen, nach vier Jahren sollen es 120.000 sein.
Warum war dieser Entwurf umstritten?
Die Bundesregierung und insbesondere die Grünen in der "Ampel" wollten neben unbegleiteten Minderjährigen auch Familien mit Kindern von den Grenzverfahren ausnehmen. Dies scheiterte jedoch. Auf Druck des EU-Parlaments sollen Familien mit Kindern aber als letzte in die Grenzverfahren kommen, ihre Anträge sollen als erste bearbeitet werden und sie sollen "geeignete Aufnahmebedingungen" vorfinden. Die EU-Asylagentur mit Sitz in Malta soll dies überwachen.
Wo soll es noch Asylverfahren geben?
Die Mitgliedsländer können Asylbewerber künftig in "sichere Drittstaaten" wie Tunesien oder Albanien zurückschicken. Voraussetzung ist, dass Migranten eine Verbindung zu dem Drittstaat haben, etwa durch Angehörige. Eine Durchreise reicht nicht aus. Eine EU-Liste sicherer Länder gibt es bisher nicht, sie soll aber erarbeitet werden.
Was ist bei der Verteilung von Migranten geplant?
Auch künftig ist das Land der ersten Einreise in der Regel für einen Asylantrag zuständig. Es greift aber ein verpflichtender Solidaritätsmechanismus. So will die EU jährlich mindestens 30.000 Migranten aus Italien oder Griechenland umverteilen.
Auf Deutschland kämen theoretisch rund 6.600 Menschen pro Jahr zu. Allerdings können Vorjahresankünfte abgezogen werden. Staaten wie Ungarn können sich von einer Aufnahme zudem freikaufen, im Gespräch sind 20.000 Euro pro Migrant. Alternativ können sie Grenzbeamte entsenden oder Projekte in Drittländern finanzieren.
Was ist mit der Erfassung der Migranten?
Bislang kommen zahlreiche Menschen unregistriert in Deutschland an. Dies soll sich mit der Reform ändern. Grenzländer wie Italien oder Griechenland sollen biometrische Fingerabdrücke oder Fotos der Migranten in der Eurodac-Datenbank der EU registrieren.
Erstmals sind Kinder ab sechs Jahren davon betroffen, bisher galt 14 als Untergrenze. Wer ein "Sicherheitsrisiko" darstellt, soll speziell gekennzeichnet werden, vor allem bei Verbindungen zu "Terrorgruppen". Der Schnell-Check soll maximal sieben Tage dauern.
Was passiert bei Ankunft besonders vieler Geflüchteter?
Das regelt eine Krisenverordnung. Auch Migranten mit bis zu 50-prozentiger Anerkennungsquote sollen dann die Grenzverfahren durchlaufen. Sie können dann sogar 18 statt zwölf Wochen festgehalten werden.
Wenn Russland oder andere Drittländer Geflüchtete "instrumentalisieren", müssen sie vollständig in die Grenzverfahren. Das träfe dann auch Syrer oder Afghanen, die mit die höchsten Anerkennungschancen in Europa haben.
Wie geht es weiter?
Vor den Europawahlen vom 6. bis 9. Juni wollen die EU-Länder den Asylpakt noch formell billigen. Danach haben sie zwei Jahre Zeit zur Umsetzung. Im Sommer, wenn wieder besonders viele Migranten in Europa erwartet werden, greift die Reform noch nicht.
Wie ist die Stimmung bei den EU-Parlamentariern
Vor dem entscheidenden Votum über die neuen Asyl- und Migrationsregeln der Europäischen Union haben Europaabgeordnete Mängel eingeräumt. Das Paket sei nicht perfekt – aber das Beste, was in jahrelangen Verhandlungen habe erzielt werden können, sagten Parlamentarier vor der Abstimmung am Mittwochnachmittag in Brüssel. Menschenrechts- und Flüchtlingsorganisationen sehen das Asylrecht in Gefahr, wenn die Pläne durchgehen.
Es gebe viele kritische Punkte in dem Gesetzespaket, sagt die SPD-Politikerin Birgit Sippel, die die neuen Regeln für das Parlament mit ausgehandelt hat. Zur Fachkräfteeinwanderung etwa sei nichts vorgesehen. "Wir haben aber die Chance auf ein gemeinsames System, und das ist gut", betont Sippel.
Zum Jubeln sei ihr nicht zumute, räumt auch die niederländische Liberale Sophie in 't Veld ein. Es sei allerdings eine "völlige Illusion" zu glauben, die Regeln könnten später noch nachgebessert werden, mahnt sie unter Anspielung auf den erwarteten Rechtsruck bei den Europawahlen Anfang Juni.
Positiv wertet die CDU-Europaabgeordnete Lena Düpont, dass der Asylpakt "das Hangeln von Notlösung zu Notlösung" in Europas Asylpolitik seit 2016 beendet. "Kurzfristige Lösungen" böten die Regeln allerdings nicht, sagt Düpont. Ihre bis 2026 geplante Umsetzung werde noch "eine Mammutaufgabe für die Europäische Union". Denn an den Außengrenzen müssen zehntausende neue Aufnahmeplätze geschaffen werden. Kritiker befürchten haftähnliche Bedingungen.
Linke und rechte Politiker sowie Hilfsorganisationen sind nicht begeistert von dem Gesetz
Ein breites Bündnis aus mehr als 160 europäischen Menschenrechts- und Flüchtlingsorganisationen warnt, die neuen Regeln könnten "die Grundrechte aushöhlen". Zudem gäben sie keine Antwort auf zentrale Probleme wie den Tod von Bootsflüchtlingen im Mittelmeer, heißt es in einem Brandbrief, den unter anderem Amnesty International, Ärzte ohne Grenzen und Pro Asyl unterzeichnet haben.
Von einem "Pakt der Schande" spricht Cornelia Ernst von der Linkspartei. Sogar Familien mit Kindern würden "in Grenzverfahren eingesperrt, um dann in sogenannte 'sichere Drittstaaten' abgeschoben zu werden", klagt sie. "Damit ist das individuelle Recht auf Asyl in der EU de facto tot."
Parteien am linken wie am rechten Rand wollen gegen den Asylpakt stimmen, auch bei den Grünen gibt es viel Kritik. Fallen einzelne der Gesetzestexte durch, hätte das Parlament ein Problem, denn es hatte auf einer Paketlösung bestanden.
Nicht eingerechnet sind die Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine, die einen besonderen Schutz in Europa genießen. Von ihnen haben mehr als eine Million in Deutschland Zuflucht gefunden, vier Millionen sind es in der ganzen EU. (afp/dpa/the)
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