• Wenige Monate vor der Parlamentswahl in Russland gehen die Behörden zunehmend massiver gegen Regierungsgegner vor.
  • Gesetze werden gezielt verschärft, Oppositionelle bedroht und zur Flucht ins Ausland gezwungen.
  • Ganz offensichtlich hat der Kreml sein Vorgehen geändert – was steckt dahinter?

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Russland wählt im September ein neues Parlament. Viel ändern dürfte sich allerdings auch nach der Abstimmung nicht. Denn wie bei den vergangenen Wahlen haben Kreml-Kritiker nur geringe Chancen, in die Staatsduma einzuziehen. Die ohnehin bereits beschränkten Möglichkeiten der Opposition hat die Duma nur wenige Monate vor der Wahl noch weiter beschnitten, das von der Partei von Präsident Wladimir Putin dominierte Parlament verschärfte die Gesetzeslage zuletzt am Freitag.

Der Druck auf unabhängige Kandidaten ist gewaltig, allein in den vergangenen Tagen sind mindestens drei russische Oppositionspolitiker ins Ausland geflohen. "Der Staat kontrolliert alle sozialen und politischen Gruppen. Und diejenigen, die er nicht kontrolliert, werden zu Extremisten erklärt. Die Opposition hat keine andere Wahl, als in den Untergrund zu gehen", erklärte Оleg Chomutinnikow am Montag in einem Interview mit der BBC.

Zusammen mit seiner Familie ist der Lokalpolitiker ins Ausland geflohen. In welches Land, sagte er nicht. Ebenso haben Alexander Solowjow, ehemaliger Vorsitzender der Oppositionsbewegung "Open Russia" ("Offenes Russland"), und der Ex-Abgeordnete Dmitri Gudkow Russland verlassen.

Opposition soll von der Parlamentswahl ausgeschlossen werden

Mit dem am Freitag in Russland in Kraft getretenen Gesetz soll offensichtlich die Opposition von der Parlamentswahl im September ausgeschlossen, die Teilnahme von Anhängern des inhaftierten Kreml-Kritikers Alexej Nawalny verhindert werden. Putin unterzeichnete den Gesetzestext, nachdem das Parlament zuvor seine Zustimmung gegeben hatte. Putins Partei, Einiges Russland, hat in der Duma eine verfassungsändernde Mehrheit. Und die soll gesichert werden.

Die Rechtsverordnung ermöglicht es nun den russischen Behörden, bestimmte Kandidaten wegen der Zusammenarbeit mit "extremistischen und terroristischen" Organisationen von allen Wahlen auszuschließen.

Doch "extremistisch" kann in Russland schnell alles und jeder sein. So beantragte die Staatsanwaltschaft gerichtlich, Unterstützerorganisationen Nawalnys dementsprechend einzustufen. Es gilt als nahezu sicher, dass ein Gericht in Moskau dem Antrag stattgeben wird – vermutlich noch in dieser Woche.

Bereits seit Nawalnys Festnahme im Januar gehen die russischen Behörden massiv gegen seine Anhänger vor. Laut einer aktuellen Umfrage fürchtet die Hälfte der Menschen in Russland eine Rückkehr von massiven Repressionen – so viele wie noch nie seit dem Ende der Sowjetunion. Zahlreiche Vertraute Nawalnys leben entweder im Ausland oder stehen unter Arrest.

Drohungen gegen Putin-Gegner

Chomutinnikow zog Konsequenzen: "Ich nehme mein Recht, in Russland zu leben, wörtlich. Wenn ich kein Recht habe, an Wahlen teilzunehmen, dann habe ich auch kein Recht, hier zu leben", erklärte er am Montag auf Facebook.

Chomutinnikow ist unabhängiger Abgeordneter des Regionalrates von Lipezk, einer Region etwa 350 Kilometer südlich von Moskau. Dort gilt er als Hauptkritiker von Putin und des örtlichen Gouverneurs, ein Mitglied von Einiges Russland. Chomutinnikow war landesweit der einzige regionale Abgeordnete von "Open Russia". Er sagte der BBC, er fürchte um seine Freiheit, nicht nur wegen der Strafverfolgung von Mitgliedern der mittlerweile aufgelösten Organisation, sondern auch wegen direkter Drohungen lokaler Behörden. Diese hätten ihm klargemacht, falls er bei den kommenden Wahlen antrete, würden sie ein fingiertes Strafverfahren einleiten.

Ehemaliger Duma-Abgeordneter flieht in die Ukraine

Chomutinnikow selbst sieht sich zudem wegen des Falles von Dmitri Gudkow unter Druck, der ihn bei der letzten Gouverneurswahl in der Region unterstützte. Der ehemalige Duma-Abgeordnete Gudkow genießt viel Zustimmung in dem Moskauer Wahlbezirk, in dem er bei den Wahlen 2016 nur knapp unterlag.

Am Wochenende ist Gudkow nach eigenen Angaben in die Ukraine geflohen. Er sei auf dem Weg nach Kiew, erklärte der 41-Jährige am Sonntag auf seiner Facebook-Seite. Informanten aus dem Umfeld des Kreml hätten ihn gewarnt, dass er auf Grundlage gefälschter Vorwürfe festgenommen würde, falls er Russland nicht verlassen sollte.

"Meine Entscheidung wurde von meinen Verwandten und Angehörigen unterstützt, die ebenfalls ernsthafte Informationen über Drohungen erhalten haben", schrieb Gudkow. Er hatte Anfang des Jahres angekündigt, für das russische Parlament kandidieren zu wollen.

Razzien in Wohnungen mehrerer Oppositioneller

Der 41-Jährige war am vergangenen Dienstag wegen des Vorwurfs der Mietprellerei festgenommen worden. Zwei Tage später wurde er aus dem Polizeigewahrsam entlassen. Es sei keine Anklage erhoben worden, sagte sein Anwalt am Donnerstag. Bei einer Anklage hätten Gudkow fünf Jahre Gefängnis gedroht. Die Polizei hatte am Dienstag sein Landhaus nahe Moskau durchsucht. Auch in Wohnungen von weiteren Oppositionellen fanden Razzien statt.

Wenige Monate vor der Parlamentswahl in Russland gehen die Behörden weiter mit aller Härte gegen Regierungsgegner vor. Am vergangenen Montag hatte die Polizei den Oppositionellen Andrej Piwowarow kurz vor seinem Abflug nach Warschau aus dem Flieger geholt. Am Mittwoch ordnete ein Gericht eine zweimonatige Untersuchungshaft gegen den 39-Jährigen an. Ihm drohen bis zu sechs Jahre Haft.

Piwowarow ist der frühere Chef der Organisation "Open Russia", die sich vergangene Woche aufgrund des wachsenden Drucks russischer Behörden selbst aufgelöst hatte, um ihre Mitstreiter zu schützen. "Open Russia" war einst von dem Kreml-Kritiker und Oligarchen Michail Chodorkowski gegründet worden.

Kreml ändert Taktik gegen Opposition

Schon bevor die Duma das oben erwähnte Wahlgesetz erlassen hatte, hatte das Parlament am 26. Mai Mitarbeitern und Unterstützern Nawalnys verboten, künftig bei Wahlen zu kandidieren. All das signalisiert ein verändertes Vorgehen des Kreml gegen die Opposition. Die russische Regierung hatte zuvor jahrelang versucht, gegen prominente Vertreter isoliert vorzugehen, um deren Eintritt in die landesweite Politik zu verhindern.

Nun der Kurswechsel – womöglich auch, weil sich die Regierungspartei Einiges Russland in einem Umfragetief befindet. Auch Präsident Putin schlägt breite Unzufriedenheit in der Bevölkerung entgegen. Russland plagen gleich mehrere Belastungen: die Coronakrise, die Folgen der Finanzkrise 2008 sowie die Sanktionen infolge der Krim-Annexion.

Mit Material von dpa und AFP.

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