- Am 24. Februar 2022 begann der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine.
- Ein Jahr später sagt der stellvertretende ukrainische Außenminister Andrij Melnyk: Die Gefahr, dass sein Land verschwindet, ist immer noch da.
- Im Interview mit unserer Redaktion spricht der frühere Botschafter in Deutschland über das Trauma der Ukrainer, die Gefahr eines Atomschlags – und die Friedensinitiative Chinas.
Herr Melnyk, was ist Ihnen vor einem Jahr durch den Kopf gegangen, als Sie von der russischen Invasion in Ihrem Heimatland gehört haben?
Andrij Melnyk: Das war natürlich ein Riesenschock. Dieser Krieg hätte für uns bedeuten können, dass wir einfach verschwinden – als Staat, als Volk, als Kulturnation, auch als Menschen. Meine Familie und ich, wir wussten damals nicht, ob wir überhaupt von Berlin nach Kiew zurückkehren können, ob wir unsere Eltern, Schwiegereltern, Freunde noch einmal sehen, ob von unserer Heimat etwas übrigbleibt. Diese bittere Erfahrung sitzt uns sehr tief in den Knochen – und die Gefahr ist immer noch da.
Bisher hat die Ukraine dem russischen Angriff doch standgehalten.
Ja, wir Ukrainer sind noch am Leben und kämpfen weiter. Wir müssen uns aber im Klaren darüber sein, mit welchem Feind wir es zu tun haben. Die Rede von
Das klingt fast, als würden Sie an einem Sieg der Ukraine zweifeln.
Nein, nein, ich persönlich habe keine Zweifel. Ganz im Gegenteil. Ich finde nur, dass wir über den Weg zu diesem Sieg ehrlich sprechen müssen. Wenn wir unseren Verteidigungskrieg weiter so mühsam führen müssen wie heute, mit dieser oft langsamen Unterstützung seitens unserer Partner, mit kleinen Schritten, wird der Krieg noch sehr lange da sein und mit enormen menschlichen Verlusten verbunden sein, vor allem auf unserer Seite. Das darf man nicht zulassen.
Andrij Melnyk über Streumunition: "Diese Debatte war gar nicht hilfreich für uns"
Wie sieht denn der Weg zu einem Sieg der Ukraine aus Ihrer Sicht aus?
Alle Verbündeten in Europa und den USA stehen fest an unserer Seite. Dafür sind wir dankbar. US-Präsident Joe Biden war ja gerade in Kyjiw. Das war für uns ein Signal der Hoffnung und Zuversicht. Er hat quasi mit seiner Anwesenheit für Fortsetzung dieser enormen Unterstützung der Vereinigten Staaten gebürgt. Der Punkt ist nur: Welche Waffen bekommen wir – und wie schnell? Da sind immer noch viele offene Fragen. Im heutigen Schneckentempo wird dieser brutale Angriffskrieg vielleicht noch Jahre dauern. Frühestens in anderthalb Monaten bekommen wir Leopard-Kampfpanzer aus Deutschland, Polen und anderen Staaten. Die Russen haben ihre Wirtschaft aber längst auf die Kriegsschiene umgestellt. Die produzieren jeden Monat 20 neue T90-Panzer und schicken sie an die Front. Und sie haben immer noch Tausende alte Sowjetpanzer, die sie instandsetzen.
Sie kennen die Bedenken, wenn es um die Lieferung von Kampfjets geht. Die meisten westlichen Verbündeten der Ukraine lehnen das ab: weil die Ausbildung der Soldaten zu lange dauern würde – und weil die Angst wächst, in den Krieg hineingezogen zu werden.
Ich bin tief davon überzeugt, dass es uns bald gelingt, diese verkehrte Dynamik zu verändern. Vor zwei Monaten hätte sich niemand vorstellen können, dass wir Luftabwehrsysteme Patriot bekommen, auch aus Deutschland. Genauso war es bei Kampfpanzern oder Schützenpanzern. Russland hat 18 Prozent unserer Gebiete besetzt. Für uns geht es darum, die russische Armee aus diesen Gebieten schnellstmöglich zu verdrängen. Dafür brauchen wir eben auch Kampfjets und Raketen mit einer längeren Reichweite. Wir wollen das Ende dieses Krieges beschleunigen – damit er nicht noch Jahre oder sogar Jahrzehnte dauert. Daher fordern wir unsere westlichen – auch deutschen – Partner auf, grünes Licht für Kampfflugzeuge zu geben.
Die vorsichtige Haltung im Westen ist vielleicht auch mit Rücksicht auf die Bevölkerung zu verstehen. In Deutschland spricht sich eine Mehrheit der Menschen zwar für die militärische Unterstützung der Ukraine aus. Aber viele Menschen haben eben auch große Angst, in diesen Krieg hineingezogen zu werden.
Das kann ich sehr gut nachvollziehen. Ich habe diese Debatten in Deutschland selbst hautnah erlebt. Am Anfang, im März 2022, waren nur knapp 20 Prozent der Deutschen dafür, uns überhaupt Waffen zu liefern. Das hat sich aber schrittweise geändert. Viele Menschen haben verstanden, dass die Ukraine ohne diese Lieferungen heute vielleicht nicht mehr bestehen würde. Verteidigungsminister
Melnyk: "Das war eine unglückliche Formulierung"
Aus der ukrainischen Regierung wurde in den vergangenen Tagen auch die Lieferung von Streumunition und Phosphorbomben ins Spiel gebracht – obwohl sie international geächtet sind. Damit hat sich die Ukraine wohl kaum einen Gefallen getan.
Das stimmt leider. Diese Debatte war gar nicht hilfreich für uns. Ich möchte sie daher ein bisschen einordnen und in Erinnerung rufen, dass der ukrainische Infrastrukturminister in München eine allgemeine Äußerung tätigte, als er danach gefragt wurde. Das war eine unglückliche Formulierung. Die Ukraine ist zwar keine Vertragspartei vom Übereinkommen gegen Streumunition, aber ich verstehe, dass dieses Statement viel Kritik hervorgerufen hat. Es war aber keine offizielle Forderung der ukrainischen Regierung.
Der russische
Man kann natürlich nicht in den Kopf von Herrn Putin schauen. Ein Restrisiko gibt es bestimmt, aber ich glaube, dass es kalkulierbar ist. Es ist seit Jahrzehnten gelungen, auch im Kalten Krieg, dass Atomwaffen nie zum Einsatz kamen. Es gibt sehr viele Kanäle, über die man auf Moskau einwirken kann. Ich gehe davon aus, dass das auch getan wurde von den Atommächten: Amerikanern, Briten, Franzosen, hoffentlich auch von den Chinesen. Ich vermute, dass sie alle Russland ganz klargemacht haben, dass ein Atomschlag auch für Russland verheerende Folgen hätte. Möglicherweise würde er das Ende von Russland einläuten, wie wir es heute kennen. Und das ist bestimmt das Gegenteil von dem, was Putin will. Daher müssen die Deutschen keine allzu große Angst vor einem Atomkrieg haben. Das macht keinen Sinn.
"Wenn es einen ernsthaften Willen Russlands gäbe, wären wir nicht grundsätzlich gegen Gespräche"
China hat in München eine Friedensinitiative in Aussicht gestellt. Wie stehen Sie dazu?
Man muss abwarten. China spielt eine wichtige Rolle, weil es großen Einfluss auf Russland und einen weltweiten Führungsanspruch hat. Wir hätten uns gewünscht, dass Peking diese Initiative stärker mit uns berät. Wenn China es wirklich ernst meint, müsste es beide Seiten einbeziehen. Das ist im Moment aber reines Wunschdenken. Wir hoffen schon, dass mehr daraus werden könnte. Wir haben aber noch keine Klarheit, wie sich China diesen Plan vorstellt. Eine Vermittlung funktioniert nur, wenn man gemeinsames Vertrauen hat, das heute fehlt, und wenn man unsere Position ernst nimmt, wenn China unsere Sorgen und Nöte viel besser versteht.
Grundsätzlich wäre die Ukraine aber bereit, mit Russland zu verhandeln?
Man kann ja nichts ausschließen, aber worüber sollten wir bitteschön verhandeln mit Putin, der uns nach wie vor als Staat und Kulturnation vernichten, von der politischen Karte ausradieren will? Wladimir Putin hat diesen Aggressionskrieg begonnen und er kann ihn jeden Augenblick beenden. Das liegt alleine in seiner Hand. Russland hat schon so viel zerstört und die ukrainische Wirtschaft um 30 Prozent einbrechen lassen. Putin könnte das Kriegsende verkünden und seiner Bevölkerung das sogar als Sieg verkaufen. Aber er will weitere Gebiete besetzen, er will weiter Ukrainer ermorden lassen. All die Rhetorik über seine angebliche Verhandlungsbereitschaft ist leider purer Bluff.
Sie schließen Verhandlungen aber nicht generell aus?
Verhandlungen sind die Aufgabe der Diplomatie. Wenn es einen ernsthaften Willen Russlands gäbe, wären wir nicht grundsätzlich gegen Gespräche. Das ist im Moment aber nicht der Fall – es gibt keine Signale für einen Verhandlungswillen Moskaus. Nur Russland kann diesen Krieg beenden. Wir nicht, solange unsere Gebiete besetzt sind. Und damit meine ich nicht nur die okkupierten Regionen. Es geht vor allem um Millionen Ukrainer in Donezk, Luhansk, Cherson, Saporischschja und auch auf der Krim, die diesem brutalen Regime ausgesetzt sind. Ihretwegen müssen wir weiterkämpfen.
"So arbeitet die Redaktion" informiert Sie, wann und worüber wir berichten, wie wir mit Fehlern umgehen und woher unsere Inhalte stammen. Bei der Berichterstattung halten wir uns an die Richtlinien der Journalism Trust Initiative.