Erst kürzlich haben Deutschland und die USA der Ukraine den Einsatz ihrer gesendeten Waffen auf russischem Boden zugestanden. Für die angegriffene Ukraine bedeutet das, dass sie sich in der Charkiw-Region besser verteidigen kann. Doch Russland sieht hierin einen Grund zur Eskalation: Deutschland mache sich damit zur Kriegspartei, heißt es. Militärexperte Wolfgang Richter mahnt: "Es wird Zeit, sich der Gefahrenlage bewusst zu werden."

Eine Analyse
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Der Schuss kommt von Süden. Es zischt am Himmel und schlägt im Norden auf russischem Staatsgebiet ein. "Das ist unser Dankeschön an Deutschland", sagt der ukrainische Fahrer, während er mit der Journalistin auf das kleine, fast verlassene Dorf Ochrimiwka zufährt. Das Dorf liegt im Osten der Ukraine, nur rund drei Kilometer von der russischen Grenze entfernt. Nachdem es im Herbst 2022 von der russischen Besatzung befreit worden war, ist es hier seit einer neuen russischen Offensive am 10. Mai wieder lauter geworden. Und gefährlicher.

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Die Kämpfe in der Stadt Wowtschansk, die westlich von Ochrimiwka liegt, sind von hier aus zu hören und zu sehen. Doch noch etwas fällt auf: Weit hinter dem Waldstück, das sich wie eine Wand vor der russischen Grenze entlang zieht, steigen schwarze Rauchwolken auf. Die Ukraine schießt jetzt vermehrt auch mit Artillerie nach Russland.

Nur wenige Tage vor dem Besuch in dem Dorf an der russischen Grenze hatte die Bundesregierung der Ukraine zugesagt, deutsche Waffen auch auf russischem Boden einsetzen zu dürfen. Kurz davor hatten die USA eine ähnliche Ankündigung gemacht, Großbritannien war rund einen Monat früher mit der Erlaubnis an die Öffentlichkeit gegangen. Westliche Waffen darf die angegriffene Ukraine nun also auch hinter den Landesgrenzen einsetzen – aber was bedeutet das? Ein Überblick.

US-Waffen dürfen nur zur Verteidigung der Charkiw-Region genutzt werden – wie sieht es mit deutschen Geschützen aus?

Die USA hatten in ihrer Erklärung zur Nutzung ihrer Waffen verlauten lassen, dass sich die Einsatz-Erlaubnis nur auf die Verteidigung der Region Charkiw erstreckt. Auch Deutschland hat den Waffeneinsatz auf die russische Grenzregion der Oblast Charkiw, also vor allem auf Belgorod, beschränkt, erklärt der Militärexperte Wolfgang Richter vom Genfer Zentrum für Sicherheitspolitik auf Anfrage unserer Redaktion.

"Der Grund dafür ist, dass es sich um einen zusammengehörigen Komplex von Gefechten unmittelbar diesseits und jenseits der russisch-ukrainischen Grenze handelt", fügt er an. Ein Teil der russischen Truppen kämpft demnach diesseits der Grenze – also auf ukrainischem Boden – während andere Teile wie Artillerie, Folgestaffeln, Führung und Logistik noch jenseits der Grenze stehen.

Laut Richter würde es keinen Sinn ergeben, diesen Zusammenhang an der Grenze zu unterbrechen. "Hier geht es vor allem um weitreichende deutsche oder US-amerikanische Artilleriegeschütze und Mehrfachraketenwerfer, die Ziele in einer Entfernung von 40 oder 80 Kilometern treffen können." Damit habe man der Ukraine allerdings keine Freigabe für Angriffe in der Tiefe des russischen Territoriums gegeben. "Die Freigabe ist ausdrücklich auf die Grenzregion beschränkt", sagt Richter.

Grundsätzlich hat die Ukraine allerdings das Recht, auch Ziele weit hinter den russischen Landesgrenzen anzugreifen – nur eben nicht mit westlichen Waffen. Völkerrechtlich gesehen, darf sich ein Land im Falle eines bewaffneten Angriffs verteidigen – das hält die Charta der Vereinten Nationen in Artikel 51 fest. Dieses Recht ist nicht nur auf das eigene Territorium begrenzt.

Das erklärte der Völkerrechtsexperte Claus Kreß bereits im August 2023 gegenüber der "Tagesschau". "Die Befugnis zur Selbstverteidigung endet nicht räumlich an der Grenze des angegriffenen Staates, sondern sie erstreckt sich grundsätzlich auf das Territorium des Angreifers", sagte der Professor an der Universität Köln damals.

Bisher hatte die Ukraine solche Angriffe mit eigenen Waffensystemen und Drohnen durchgeführt. Nun können die Streitkräfte auch amerikanische, britische und deutsche Waffen dafür nutzen.

Was genau plant die Ukraine mit diesen Waffen?

Vor allem geht es bei dem Einsatz darum, Angriffe auf die Region Charkiw zu verhindern oder zumindest einzudämmen. Zum Beispiel können Flugzeuge, die die derzeit viel genutzten und höchst wirkungsvollen Gleitbomben (FAB-1500) ablassen, damit abgeschossen werden. Auch Artilleriesysteme, die meist mehrere Kilometer hinter der aktiven Frontlinie und in dieser Region daher auf russischem Boden stehen, könnten so effektiv ausgeschaltet werden.

Aus den gegebenen Einschränkungen ergibt sich laut Richter, "dass die Ukraine keine Pläne haben sollte, mit deutschen oder amerikanischen Waffen Ziele auf russischem Gebiet außerhalb der Grenzregion anzugreifen".

Warum haben die USA und Deutschland länger gezögert als Großbritannien?

Anders sieht es allerdings bei britischen Waffen aus. Nach Äußerungen des britischen Außenministers David Cameron Anfang Mai unterliegen diese keinen Beschränkungen mehr. Dies gilt laut Richter vor allem für die Marschflugkörper des Typs Storm Shadow ALCM mit einer Reichweite von 250 bis 290 Kilometer. "Sollten die Ukrainer mit diesen Waffen Ziele von strategischer Bedeutung in Russland angreifen, zum Beispiel Flugplätze der strategisch-nuklearen Bomberflotte oder nukleare Frühwarnanlagen, könnte die Lage eskalieren", meint der Militärexperte.

Kiew hatte bereits mehrfach mit eigener Kraft solche Ziele angegriffen – etwa mit Kampfdrohnen. "Deutschland und die USA wollen jedoch vermeiden, dass der Einsatz westlicher Waffensysteme zur Ausweitung des Krieges führt", meint Richter und fügt an: "Letztlich will das auch Großbritannien nicht." Daher hätten sie auch eigene Experten entsendet, die Einfluss auf die Zielplanung der Ukrainer ausüben.

Könnte mit der deutschen Entscheidung auch die Debatte um das Langstrecken-System Taurus wieder aufkommen?

Russland hatte bereits kurz nach der Entscheidung von Verteidigungsminister Boris Pistorius, deutsche Waffen auch in Russland einzusetzen, davon gesprochen, dass sich die Bundesrepublik damit zur Kriegspartei mache. Mit einer solchen Begründung hatte Kanzler Olaf Scholz im Februar dieses Jahres eine Lieferung des Marschflugkörpers Taurus ausgeschlossen – trotz weitreichender Kritik.

Dennoch geht Militärexperte Wolfgang Richter nicht davon aus, dass Scholz seine Meinung ändern wird. "Mit der begrenzten Freigabe des Einsatzes deutscher Waffen im Grenzgebiet Charkiw-Belgorod ist kein weitreichender Waffeneinsatz verbunden", sagt er. Eine Freigabe von Taurus-Lieferungen hatte der Bundeskanzler bereits im Februar dieses Jahres trotz vieler kritischer Stimmen ausgeschlossen. Und der Militärexperte Richter sieht keine Anzeichen, dass sich an dieser Beschlusslage in naher Zukunft etwas ändern könnte.

Macht sich Deutschland nun zum legitimen Ziel für russische Angriffe?

"Die russische Aussage, dass der Einsatz westlicher Waffen auf Ziele in Russland als Kriegsbeteiligung gewertet wird, ist ernst zu nehmen", sagt Richter. Moskau habe asymmetrische Antworten angekündigt, führt der Experte aus. "Dies kann dazu führen, dass Russland weitreichende Waffen an antiwestliche Staaten liefert, etwa Staaten in Lateinamerika oder im arabischen Raum." Gleichzeitig werde Moskau die lange russisch-finnische Grenze zu stärken suchen.

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Eine Kriegsausweitung könnte demnach dann drohen, wenn Russland infolge westlicher Waffenlieferungen und -einsätze in eine militärische Notlage gerät. Bisher ist das nicht der Fall. Doch Richter sagt: "Gleichwohl wird die Eskalationsschraube auf beiden Seiten weitergedreht, während eine realistische Exitstrategie nicht erkennbar ist. Es wird Zeit, sich der Gefahrenlage politisch bewusst zu werden und Verhandlungen mit Russland nicht weiter auszuschließen."

Alle Entscheidungen für Waffenlieferungen und Freigaben müssen laut Richter im Rahmen von drei konkurrierenden Zielen getroffen werden: Die Erhaltung einer unabhängigen und souveränen Ukraine, die Verhinderung einer Eskalation und die Stärkung der eigenen Verteidigungsfähigkeit.

Über den Gesprächspartner

  • Wolfgang Richter ist Oberst a. D., war leitender Militärberater in den deutschen UN- und OSZE-Vertretungen und arbeitet jetzt als Associate Fellow beim Genfer Zentrum für Sicherheitspolitik (GCSP) sowie als Senior Advisor beim Austrian Institute for European and Security Policy.
  • Von 2010 bis 2022 war er Senior Associate bei der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) in Berlin.
  • Seine Forschungsgebiete umfassen die europäische Sicherheitsordnung einschließlich der Rolle der OSZE, die Beziehungen zwischen der NATO und Russland, Territorialkonflikte, konventionelle und nukleare Rüstungskontrolle sowie militärische Strategien.

Verwendete Quellen

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