Im Parlament in Kiew hat Präsident Selenskyj seinen "Siegesplan" vorgestellt. Dazu gehören unter anderem ein Nato-Beitritt und die Ausweitung des Kriegs auf russischem Gebiet. Militärexperte Gustav Gressel ordnet die Forderungen und Ziele ein und erklärt, ohne welchen Schritt alles andere nichts wert ist – und um welches goldene Kalb der Westen immer noch tanzt.

Eine Analyse
Dieser Text enthält eine Einordnung aktueller Ereignisse, in die neben Daten und Fakten auch die Einschätzungen von Marie Illner sowie ggf. von Expertinnen oder Experten einfließen. Informieren Sie sich über die verschiedenen journalistischen Textarten.

Selenskyj hat in einem "Siegesplan" fünf Punkte vorgestellt, die zu Frieden in der Ukraine führen sollen. Welcher ist der wichtigste Punkt?

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Gustav Gressel: Der Beitritt zur Nato. Aus ukrainischer Sicht ist ein Beitritt fundamental, um Frieden zu haben. Es ist für Kiew das wichtigste und zentralste Ziel, eine Wiederaufnahme des Krieges zu verhindern. Viele Menschen in der Ukraine sagen: "Wir müssen den Krieg jetzt führen, damit unsere Kinder ihn nicht mehr führen müssen." Die Ukrainer wollen ihre Unabhängigkeit ein für alle Mal erstreiten.

"Der Westen unterstützt die Ukraine nicht genug, um diesen Krieg zu gewinnen."

Gustav Gressel

Warum gerade jetzt, ist das nicht von Anfang an das Ziel?

Gerade jetzt wird offensichtlich: Der Westen unterstützt die Ukraine nicht genug, um diesen Krieg zu gewinnen, und der Westen glaubt auch nicht daran, dass die Ukraine diesen Krieg gewinnen soll. Das ist an der Politik von Biden und Scholz völlig offensichtlich. Der Nato-Beitritt ist tatsächlich die einzige Möglichkeit, wirklich Frieden zu schaffen.

Warum?

Weil alle bilateralen Sicherheitsabkommen im Grunde Humbug sind. Deutschland hat einen Sicherheitsvertrag mit der Ukraine geschlossen und ihn in der jetzigen Budgetdebatte auch schon wieder gebrochen. Deutschland sagt zwar, es habe immer einen Budgetvorbehalt dringestanden und in diesem Sinne den Vertrag nicht gebrochen, aber dann war er im Grunde auch nichts wert. Alles außer einen NATO-Beitritt ist im Grunde nichts wert.

Kein Minsk 3, Budapest 2.0 ...?

Nein, das ist Blödsinn. Nur der Nato-Beitritt gibt der Ukraine die Garantie, dass alle anderen Bündnisstaaten, egal wie ein amerikanischer Präsident irrlichtert, sich auch dafür einsetzen, dass der Beistand gegenüber der Nato erhalten bleibt. Ein verrückter amerikanischer Präsident kann immer eine bilaterale Sicherheitserklärung gegenüber einem individuellen Staat über den Haufen schmeißen, von denen die Amerikaner nicht abhängig sind.

Aber Trump hat auch in der Vergangenheit schon mit einem Austritt aus der Nato gedroht?

Am Bestehen der Nato an sich und daran, Europa nahe an den USA zu halten, haben die Amerikaner so ein fundamentales Interesse, dass selbst ein verrückter amerikanischer Präsident hier – wenn er über diese Hürde gehen würde – zumindest eine erhebliche innenpolitische Diskussion lostreten würde, auch im republikanischen Lager.

Wie nehmen Sie die deutsche Debatte wahr?

Sie ist fernab der Realität und in Wolkenkuckucksheim gibt es Neutralitätsoptionen und weiteren Blödsinn. All die deutschen Optionen, die da vorgeschlagen werden, heißen für die Ukraine Krieg und Vernichtung. Das muss man leider in dieser Deutlichkeit sagen.

Ausweitung des Krieges auf russisches Gebiet

Selenkyjs Siegesplan sieht auch vor, den Krieg auf russisches Gebiet auszuweiten. Wie sinnvoll ist das?

Man muss dabei zwei Dinge unterscheiden. Das eine ist die Kursk-Offensive – also eine physische Besetzung von russischem Territorium als Faustpfand. Das zweite sind die Schläge der Ukraine auf russisches Gebiet. Beides ist völkerrechtlich gedeckt.

Was ist für die Ukraine wichtiger?

Die Schläge der Ukraine auf russisches Gebiet, denn die Russen sind sehr lange nicht verhandlungsbereit. Ich weiß daher nicht, ob es aus ukrainischer Sicht Sinn macht, dieses Gebiet um Kursk noch zu halten. Es verschlingt schließlich militärische Ressourcen. Ein Ausweiten des Einsatzes westlicher Waffen auf russisches Gebiet ist dringend und zwingend erforderlich, denn sonst gewährt man den Russen taktisch operative Vorteile, indem sie aus einem sicheren Gebiet heraus operieren können, dass die Ukraine nicht oder nur sehr vermindert angreifen kann.

Wie steht es um das Eskalationspotenzial?

Bei jedem Angriff ist der Einzelfall zu prüfen, ob ein Angriff auch wirklich sinnvoll ist, aber hier gibt es verlässliche Methoden der Einzelfallprüfung mit den Ukrainern. Hier wird im Westen völlig sinnlos um ein nicht bestehendes goldenes Kalb herumgetanzt und den Russen Schwäche und Einschüchterung signalisiert. Wenn die Ukraine Russland durch militärischen Druck an den Verhandlungstisch zwingen will, wäre das mit selektiven Zielen in Russland viel weniger blutig.

Warum?

Die Gegenoffensive 2023 hat sehr viele Menschenleben gekostet. Wenn man aber Ziele in Russland angreift, vor dem Hintergrund der wirtschaftlichen und materiellen Ermattung, wird weniger Blut vergossen. Dabei geht es dann zum Beispiel darum, die Benzinpreise oder die Inflation in Russland in die Höhe zu treiben.

Geht der Westen bei der Ausweitung des Kriegs auf russisches Territorium mit?

Nein, zumindest die Deutschen und die Amerikaner nicht. Die Briten und die Franzosen würden mitgehen, wenn sie souverän genug wären, die Entscheidungen für sich zu treffen.

Wie stehen Sie dazu, die Ukraine zur Abschreckung aufzurüsten?

Das halt ich für eine Illusion, wenn die Ukraine nicht in der Nato verankert ist. Es wird ihr dann immer an der nuklearen Rückversicherung fehlen. Auf sich allein gestellt wird die Ukraine das nicht schaffen können.

Selenskyj hat beim Vorstellen seiner Pläne betont, dass das Land über natürliche Ressourcen im Wert von Milliarden US-Dollar verfügt, unter anderem Uran, Titan und Lithium. Dies werde entweder Russland und dessen Verbündete Nordkorea, China und Iran im globalen Wettbewerb stärken oder die Ukraine und die demokratische Welt. Wie stehen Sie dazu?

Ich halte diese Kommunikation für nicht zielführend, sondern für eine Fehlkommunikation. Der Krieg wird immer mehr kosten, als in der Ukraine wirtschaftlich zu holen ist. Die Frage, wie man mit der Ukraine umgeht und warum die Ukraine gewinnen soll, ist eine Frage der Sicherheit, nicht des wirtschaftlichen Erfolges. Wenn Russland nicht als Verlierer aus diesem Krieg hervorgeht, wird Europa mit Krieg überzogen. Alles andere ist zweitrangig.

Die Ukraine als Schlüsselland

Selenskyj sagt, dass die Ukraine am Ende des russischen Angriffs ihre militärischen Erfahrungen in Sicherheitseuropa einbringen wird. Wie stark wiegt dieses Versprechen?

Die Ukraine ist ein Schlüsselland, wenn es darum geht, die Rüstung und die militärischen Fähigkeiten in Europa weiterzuentwickeln. Wir erleben zum ersten Mal einen Konflikt zweier Industrienationen mit erheblichem technischem und IT-Potenzial, etwa in Form von Drohnen und automatisierten Waffensystemen. Da können wir von der Ukraine enorm viel lernen. Auch taktisch gibt es enorm viele Lehren zu ziehen.

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Und welches Signal sendet das an die USA?

Die Ukraine kann die USA natürlich nicht ersetzen. Solche Äußerungen Selenskyjs sollen den Isolationisten in Washington entgegenkommen und ihnen zeigen: "Wenn ihr uns so ertüchtigt, dass wir die Russen abschrecken können, dann braucht ihr später weniger für uns zu tun." Der Krieg hat gezeigt, wie elementar die amerikanische Unterstützung logistisch, informationell und aufklärungstechnisch für die Ukraine und für Europa ist.

Es gibt auch drei Punkte seines Siegesplans, die Selenskyj noch geheim hält. Worum könnte es dabei gehen?

In erster Linie um Waffensysteme, um Größenordnungen der militärischen Unterstützung und um die ukrainischen Verluste, die ausgeglichen werden können. Die westliche Unterstützung reicht nicht einmal aus, um die Kriegsverluste der Ukraine an Material auszugleichen. Ukrainische Militärplaner können im Grunde nicht über wenige Wochen hinaus im Voraus planen, wie sie ihre Einsatzführung gestalten können, weil Munitions- und Materiallieferungen aus dem Westen oft mit so großen Verzögerungen kommen. Aber auch in der Ukraine besteht ein nicht unerhebliches Ausmaß an Chaos in der Planung.

Über den Gesprächspartner

  • Gustav Gressel ist Experte für Sicherheitspolitik, Militärstrategien und internationale Beziehungen. Er absolvierte eine Offiziersausbildung und studierte Politikwissenschaft an der Universität Salzburg. Schwerpunktmäßig befasst sich Gressel mit Osteuropa, Russland und der Außenpolitik bei Großmächten.
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