Vor einem Jahr schockte Ex-Wagner-Chef Prigoschin die Welt und vor allem den Kreml mit seinem Aufstand. Nach einem Tag war der Spuk vorbei. Das Andenken an den wenige Monate später gestorbenen Söldner-Boss hält bis heute an.

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Jewgeni Prigoschin steht als Denkmal fast lebensgroß auf dem Friedhof Porochowskoje in St. Petersburg. Die Statue des Ex-Chefs der russischen Privatarmee Wagner mit ausgestreckter Hand zieht in Scharen Anhänger an. Sie greifen nach der Hand, senken den Kopf, halten schweigend inne. Viele legen rote Nelken nieder – auch Tage nach Prigoschins Geburtstag, der am 1. Juni 63 Jahre alt geworden wäre. Vor einem Jahr, am 23. Juni 2023, zettelte er einen Aufstand gegen Russlands korrupte Militärführung an, scheiterte damit – und starb nach offiziellen Angaben zwei Monate später bei einem Flugzeugabsturz.

Das Grab, rund zehn Kilometer vom Zentrum der Millionenmetropole entfernt, ist zu einer Pilgerstätte geworden. Bis heute verehren viele Russen den schwerreichen Geschäftsmann, einen verurteilten Dieb, engen Ex-Vertrauten von Kremlchef Wladimir Putin und Gründer des berüchtigten Wagner-Söldnerheers. Prigoschin kam als Restaurant-Besitzer, Immobilienmogul und Essenslieferant für Schulen, Kindergärten und Militär zu Reichtum. Wegen seiner gastronomischen Aktivitäten nannten viele ihn landläufig "Putins Koch".

Wagner-Söldner in neuen Strukturen weiter aktiv

Prigoschin galt als Meister der Desinformation und Täuschung. Mit seiner international tätigen Internet-Trollfabrik stand er in den USA im Verdacht, sich in Präsidentenwahlen eingemischt zu haben. Die USA hatten ihn deshalb zur Fahndung ausgeschrieben.

Prigoschins Wagner-Armee war nicht nur im Ukraine-Krieg im Einsatz, sondern schon davor etwa in Syrien. Vor allem aber mischte sie kräftig mit in den vielen Konflikten in Afrika. Dort galt Prigoschin stets als Putins Mann fürs Grobe. Und nicht nur dort stehen die Wagner-Söldner wegen schwerster Verbrechen gegen die Menschlichkeit in der Kritik.

Internationale Beobachter gehen davon aus, dass die von Prigoschin aufgebauten Strukturen weiterhin in Afrika – für Russlands Expansionsstreben – aktiv sind. Der Kreml hatte nach seinem Tod schnell klargemacht, dort weiter für Russlands Interessen zu kämpfen.

Kult um toten Wagner-Chef

Nicht nur in Prigoschins Heimatstadt St. Petersburg ist der Kult um den Unternehmer lebendig – auch wenn sein Firmenimperium mit dem Unternehmen Konkord an der Spitze zerschlagen ist. In Moskau legen Menschen in Kremlnähe an einem improvisierten Gedenkort Blumen nieder. Auch in anderen Orten gibt es Denkmäler für die Wagner-Truppe.

Grab von Prigoschin
Anhänger des Ex-Wagner-Chefs Jewgeni Prigoschin pilgern zu seinem Grab in St. Petersburg. © IMAGO/Russian Look/Aleksandr Galperin

Am Eingang des Friedhofs Porochowskoje sitzt eine Blumenverkäuferin. Sie freut sich über das gute Geschäft seit der Beerdigung Prigoschins. Ein paar hundert Meter sind es bis zum Grab. Pfeile weisen den Weg. Männer in Motorradklamotten, harte Typen in Tarnuniform oder einfach nur Paare kommen mit roten Nelken. Einige erzählen, dass sie Prigoschin verehren, weil er als echter Patriot für ein starkes Russland gekämpft habe.

Arbeiter verlegen in dem unwegsamen Gelände an dem sonnigen Tag edle Platten, damit Fußgänger leichter zum Grab gelangen. Dort stehen eine russische Trikolore, eine Flagge der Wagner-Truppe und Blumenkränze. Ein älterer Mann mit einem Fahrrad erzählt, dass er oft zum Grab kommt. Er beklagt, dass die Behörden seit dem Flugzeugabsturz am 23. August gar nichts zu den Umständen erklärt hätten.

Rätsel um Prigoschins Tod

"Es gibt noch so viele Fragen", sagt der 63-Jährige. Er denkt wie viele in Russland, dass es sich bei dem Flugzeugabsturz um einen Racheakt des Machtapparates gehandelt habe, weil Prigoschin einen Aufstand gegen die korrupte Moskauer Militärführung angezettelt hatte, der schon einen Tag später am 24. Juni scheiterte. Nicht wenige Russen glauben, dass Prigoschin noch am Leben sei und in Afrika oder sonst wo weiter seine Geschäfte mache. "Ich glaube das nicht, er könnte doch nicht da irgendwo im Ausland ruhig sitzen, ohne sich einzumischen, er würde sich doch um Russland kümmern", meint der Mann.

Putin selbst legte nahe, dass die Wagner-Führung an Bord der Maschine unsachgemäß mit einer Granate hantiert habe, die dann explodiert sei. Verbreitet ist aber auch die Sicht, dass die russische Flugabwehr das Flugzeug gezielt abgeschossen haben könnte. Eine internationale Untersuchung zum Absturz von Prigoschins Privatflugzeug im russischen Gebiet Twer, bei dem auch neun weitere Insassen starben, hat Russland abgelehnt.

Putin ließ später Wagner-Söldner, die monatelang in der Ukraine kämpften, zu Tausenden in die regulären Streitkräfte eingliedern. Und, als würde er Prigoschin doch posthum recht geben, hat der Präsident zuletzt Verteidigungsminister Sergei Schoigu ausgewechselt – und mehrere Vertreter der Militärführung wegen Korruption und Amtsmissbrauchs verhaften lassen. Aber auch ein anderes Erbe lastet weiter auf Russland.

Wagner-Söldner verbreiten weiter Schrecken in Russland

Mit Putins Erlaubnis hatte Prigoschin in Straflagern zu Zehntausenden Kämpfer rekrutiert, die sich durch den Kriegseinsatz in der Ukraine von ihrer Schuld freikaufen konnten. Die verurteilten Schwerverbrecher, darunter etliche Mörder, kamen, wenn sie überlebten, nach sechs Monaten in Freiheit. Putin begnadigte Zehntausende von ihnen. Seither wird die Gesellschaft immer wieder durch Verbrechen dieser Kriegsheimkehrer erschüttert. Oft greifen sie ihre Frauen, Mütter, Schwestern oder auch Nicht-Angehörige an.

Im April nahmen Beamte im Gebiet Leningrad einen 42 Jahre alten Wagner-Söldner fest, der seine Freundin nach einem Streit getötet und zerstückelt hatte. Die Wagner-Armee hatte den zu zwölf Jahren Haft verurteilten Mörder aus einem Straflager rekrutiert.

Prigoschin hatte die Gefahr einer Zunahme von Verbrechen durch die nach dem Kriegseinsatz freigelassenen Straftäter stets heruntergespielt. Experten der Organisation nasiliu.net – Nein zu Gewalt – befürchten aber vor allem in Zukunft noch eine Zunahme der häuslichen Gewalt, wenn mehr dieser Männer mit möglichen posttraumatischen Belastungsstörungen wieder in ihr altes Leben zurückkehren.

Enthüllungsbuch zu Prigoschin

In ihrem Buch "Nasch Business Smert" (auf Deutsch: "Unser Business ist der Tod") über Prigoschin und seine Wagner-Truppe zeichnen die russischen Journalisten Ilja Barabanow und Denis Korotkow anhand von Dokumenten und Aussagen von Söldnern die Machenschaften der von Korruption geprägten Privatarmee nach. Mehr als 20.000 Wagner-Kämpfer sollen allein in der Ukraine gefallen sein.

Prigoschin sei ein Abenteurer, ein Mörder, ein Aufständischer gewesen, der als Anführer einer patriotischen Opposition Putin am Ende gehörigen Schrecken eingejagt habe – und deshalb beseitigt worden sei, heißt es in dem Buch. Die Autoren kommen zu dem Schluss, dass Prigoschins Leben ganz beispielhaft stehe für die "Mechanismen eines mafiosen Staates" unter Wladimir Putin. (afp/the)

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