Russland führt nicht nur auf den Schlachtfeldern der Ukraine einen Krieg, sondern operiert auch im Verborgenen. Dabei sind Cyberangriffe und Trolle längst nicht mehr das einzige Mittel, das Moskau bei seinem hybriden Krieg nutzt. Sicherheitsexperte Andrej Soldatov erklärt, wie der Kreml sonst noch vorgeht, woher er seine Agenten rekrutiert und warum besonders Deutschland alarmiert sein sollte.
Die Liste ist lang, und sie wird ständig länger: Unbefugte Zutritte auf Bundeswehrgelände, Ausspähversuche mit Drohnen, Anschlagspläne wie auf den Chef von Rheinmetall, per Luft verschickte Brandsätze und Sabotage an Schnellzug-Netzen.
Aktionen, bei denen unklar bleibt, wer hinter ihnen steckt, sich aber ein Verdacht aufdrängt: Denn die Spuren führen immer wieder nach Russland. "Russland führt einen hybriden Angriffskrieg", sagte Außenministerin
Dass der Kreml auch Krieg abseits des Schlachtfelds im Verborgenen führt, ist nicht neu. Der Begriff "Hybrider Krieg" wurde bereits in den frühen 2000er-Jahren populär – vor allem im Zusammenhang mit der Krim-Annexion. Damals setzte Russland auf Propaganda, Cyberangriffe, verdeckte Operationen - und militärische Mittel.
Hybrider Krieg hat sich verändert
Doch der hybride Krieg hat sich im Jahr 2024 noch einmal verändert: "Es ist ein sich entwickelndes Phänomen. Vor fünf bis zehn Jahren ging es hauptsächlich um die Aktivitäten von Trollen, die Verbreitung von Desinformationen und um Cyberangriffe, die sich gegen Einzelpersonen und manchmal gegen politische Einrichtungen im Westen richteten", sagt Andrej Soldatov, russischer Journalist und Experte für Geheimdienste.
Nach der umfassenden Invasion in der Ukraine sei das Phänomen größer geworden und schließe auch Sabotageakte ein: Drohnenangriffe auf Anlagen etwa, in Brand gesetzte Einrichtungen oder Flugblätter mit Botschaften, die Unruhen auslösen könnten. Ein beliebtes Ziel: Deutschland.
Der Vorteil von "Wegwerf-Agenten"
Das Kalkül hinter dieses Aktionen: Angst säen, für Instabilität sorgen – ohne als Staat dafür Verantwortung übernehmen oder Rache fürchten zu müssen. Denn demokratische Staaten würden kaum mit denselben Methoden zurückschlagen, so Soldatov.
Er sagt: "Während des Kalten Krieges und in den 1990er- und 2000er-Jahren glaubten wir alle, dass ein Geheimdienstagent männlich, hoch motiviert, gut ausgebildet und bereit ist, Befehle aus Moskau auszuführen." Das habe sich komplett verändert. "Wir sehen zunehmend, dass russische, aber auch ukrainische Geheimdienste, Menschen für nur eine einzige Operation rekrutieren." Es handele sich dabei um sogenannte "Wegwerf-Agenten" oder "Single-Use-Agents".
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Die Aufgaben, die diesen Agenten übertragen würden, seien extrem einfach und primitiv. Es bedürfe keiner Ausbildung. "Sie müssen nicht in irgendeine Organisation eingebunden werden, was es zudem sehr schwierig macht, sie aufzuspüren", so der Experte.
Rekrutierung auf Telegram
Die Sozialen Medien würden eine große Rolle bei der Rekrutierung spielen. "Manchmal wird den Angeworbenen eine kleine Geldsumme angeboten, manchmal eine große", sagt Soldatov. Die russischen und die ukrainischen Geheimdienste würden vorzugsweise in Europa nach Leuten suchen. Telegram sei dabei die Haupt-Plattform. "Manche werden für einen einzigen Zweck angeworben, sollen zum Beispiel für fünf Euro etwas an die Wand einer Regierungsbehörde kleben – und das war’s", erklärt der Experte.
Die Anwerber rekrutieren ganz gezielt. "Sie nutzen Telegram-Gruppen in denen Menschen zusammenkommen, die sich für ein bestimmtes Thema interessieren und sich darüber austauschen", sagt Soldatov.
Aufnahmen von Sabotage-Akten
Das belegen auch Recherchen von "ZDF-frontal". Getarnt unter falschem Namen hat das ZDF-Team Kontakt zu russischen Recruitern über öffentliche Telegram-Gruppen aufgenommen. Eine der Gruppen wird Mitgliedern der ehemaligen russischen Wagner-Miliz zugeordnet.
Die Anwerber fragten nach Geburtsdatum, Ausweis-Dokument und selbst aufgenommenem Video, sie suchten nach Leuten, die gegen eine geringe Bezahlung Sabotageakte durchführen würden und für 10.000 Euro sogar einen Auftragsmord. Die zu erteilenden Aufträge im Rahmen der Recherche waren vielfältig: vom in Brand setzen eines Mannschaftstransporters der NATO bis zur Ermordung von "Faschisten".
Wie die Journalisten berichten, wurden in den Gruppen auch Aufnahmen erfolgreicher Sabotage-Akte geteilt, brennende Zugwaggons etwa. Wer genau hinter solchen Aufträgen steckt, ist unklar. Sicherheitsbehörden halten aber alle drei russischen Geheimdienste für fähig, dies zu tun.
Ernsthafte Bedrohung für Deutschland
Auch die Ukraine rekrutiert online. "Manchmal sind es russische Rentner", sagt Soldatov. Im vergangenen Jahr sollen die landesweit mehrere russische Wehrersatzämter, die Wehrpflichtige einberufen, in Brand gesteckt haben, so Soldatov.
Deutschland muss die Bedrohungen aus seiner Sicht besonders ernst nehmen. "Deutschland spielt eine sehr wichtige Rolle bei der Lieferung von militärischer Munition an die Ukraine, was es zu einem vorrangigen Ziel für russische Operationen macht", sagt er.
Die Signale des Kremls
Soldatov vermutet, dass solche Aktionen weiter zunehmen werden. "Diese Art von Sabotageakten ist ziemlich effektiv", sagt er. Hinzu komme: Sie senden ein klares "Signal, wozu die russischen Geheimdienste fähig und bereit sind". Das treibe die Kosten für die Verteidigung Deutschlands.
Noch klaffen in Deutschland Beobachtern zufolge enorme Sicherheitslücken, durch unbesetzte IT-Stellen im Bundesinnenministerium oder weil das Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik Anlagen, die weniger als 500.000 Personen versorgen, nicht als "kritische Infrastruktur" klassifiziert. Dadurch wird ihnen kein besonderer Schutz zuteil.
Die Gesetze sind nicht mehr zeitgemäß
Stadtwerke im ländlichen Raum, die rund 80.000 Menschen versorgen, werden also nicht gesondert geschützt. Deutschland verlasse sich viel zu sehr auf Verbündete, klagt Nico Lange, Experte der Münchener Sicherheitskonferenz. Er fordert, im Zuge der "Zeitenwende" endlich auch die gesetzlichen Grundlagen für die Gegenspionage anzupassen.
Soldatov konstatiert: "Natürlich erhöht der hybride Krieg auch die Kosten der militärischen Unterstützung für die Ukraine. Genau das ist es, was die russischen Sicherheitsdienste erreichen wollen. Im Westen soll die Botschaft ankommen: ‚Wenn ihr die Ukraine unterstützt, wird es euch teuer zu stehen kommen‘".
Europa fehlt noch eine Strategie
Das Problem: In Europa gebe es derzeit weder Strategien noch Taktiken, um solchen hybriden Angriffen vorzubeugen. Das war auch nicht nötig, denn während des Kalten Krieges gingen die sowjetischen Geheimdienste noch anders vor. "Früher war der hybride Krieg hauptsächlich ein Online-Phänomen", sagt Soldatov. "Heute ist es eine Kombination aus physischen und digitalen Angriffen."
Das bedeute aber auch: Behörden und Sicherheitsdienste müssten offensiver mit den Informationen umgehen, die sie gewinnen, und diese dann mit den Medien teilen. "Sie sollten transparenter sein mit dem, was sie wissen", empfiehlt Soldatov.
Über den Gesprächspartner
- Andrei Soldatov ist russischer Journalist und Geheimdienstexperte.
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