Die Zeit der naiven Europa-Romantik ist vorbei, findet der SPD-Politiker Michael Roth. Die Europäische Union müsse ihre Werte gegenüber Populisten verteidigen und die Aufnahme weiterer Staaten vorantreiben. "Wenn die EU zögert und zaudert, werden autoritäre Regime wie Russland, China oder die Türkei in dieses Vakuum stoßen."

Ein Interview

Im spanischen Granada beraten Vertreterinnen und Vertreter der Europäischen Union am Freitag unter anderem über Beitrittsperspektiven für neue Mitgliedsstaaten. Einen Tag zuvor empfängt Michael Roth, Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses, zum Interview. Der SPD-Politiker mahnt zur Eile: Die Europäische Union dürfe nicht immer auf interne Reformen verweisen, bevor sie neue Mitglieder aufnehme. "Deutlich mehr Ehrgeiz täte Europa schon gut", sagt der frühere Staatsminister im Auswärtigen Amt.

Mehr aktuelle News

Herr Roth, in der Slowakei ist mit Robert Fico ein Putin-Versteher bei den Wahlen auf dem ersten Platz gelandet. Wie sehr besorgt Sie das?

Michael Roth: Jeder weitere Putin-Kuschler und Demokratie-Verächter ist gefährlich. Das Gift des Nationalismus und Populismus breitet sich immer weiter aus. Das ist eine konkrete Bedrohung für den Zusammenhalt in der Europäischen Union, die ja nicht nur ein Binnenmarkt, sondern vor allem eine Wertegemeinschaft ist. Die gemeinsamen Werte sind unser Lebenselixier.

Die Partei des slowakischen Wahlsiegers Fico ist allerdings noch Mitglied der sozialdemokratischen Parteienfamilie in Europa – genau wie die SPD.

Aus meiner Sicht hat seine linkspopulistische Partei in der Sozialdemokratischen Partei Europas nichts zu suchen. Wer nicht mit beiden Beinen fest auf dem Boden sozialdemokratischer Grundwerte steht, sollte bei uns nicht Mitglied sein.

Auch die Regierungen in Polen und Ungarn wenden sich von der EU ab. Wie müsste die Antwort auf diese Entwicklung in Osteuropa lauten?

Die Zeit der naiven Europa-Romantik ist vorbei. Die Europäische Union muss deutlich besser werden, vor allem in der Außen- und Sicherheitspolitik. In diesen unübersichtlichen, chaotischen und gefährlichen Zeiten erwarten die Menschen Schutz und Sicherheit. Diese Werte verbinden sie noch zu wenig mit Europa. Und wir müssen den Nationalisten und Populisten mit guten Argumenten und klarer Sprache noch entschiedener entgegentreten.

"EU-Politiker kommen bisweilen ziemlich oberlehrerhaft daher. Das bringt nicht viel."

Michael Roth

Woran liegt das aus Ihrer Sicht?

Wir sind in der EU bisher Meister der Appelle. Wir appellieren den lieben langen Tag. Die Außenministerinnen und Außenminister, Frau von der Leyen als Kommissionspräsidentin, Herr Michel als EU-Ratspräsident appellieren, mahnen und ermahnen. EU-Politikerinnen und -Politiker kommen bisweilen ziemlich oberlehrerhaft daher. Das bringt nicht viel.

Was würde denn etwas bringen?

Ich will das an drei Krisen in unserer europäischen Nachbarschaft deutlich machen: erstens die Ukraine. Wir sollten nicht nach Washington starren wie das Kaninchen auf die Schlange. Falls die USA ihr Engagement für die Ukraine zurückfahren, müssen wir die Frage beantworten: Was haben wir zu tun, um die Ukraine in ihrem Freiheitskampf noch besser zu unterstützen? Zweitens: Wenn Aserbaidschan den politischen Konflikt mit Armenien um Bergkarabach mit Gewalt löst, können wir bei unseren Energiebeziehungen mit Baku nicht einfach "business as usual" betreiben. Eine junge, fragile Demokratie wie Armenien dürfen wir nicht links liegen lassen. Wenn sie scheitert, werden die alten prorussischen Eliten in Armenien die Macht übernehmen.

Was könnte Europa in diesem Konflikt konkret unternehmen?

Gegenüber Armenien können wir Visa-Liberalisierung anbieten, ein großes Wirtschaftspaket, deutlich mehr humanitäre Hilfe zur Aufnahme der zehntausenden Geflüchteten aus Bergkarabach. Gegenüber Aserbaidschan könnten wir Energieverträge suspendieren.

Auch der Konflikt zwischen Kosovo und Serbien hat sich zuletzt zugespitzt.

Das ist mein dritter Punkt. Wir dulden seit Jahren den Nationalismus des serbischen Präsidenten Vucic, der immer wieder im Kosovo und in Bosnien-Herzegowina eskaliert und destabilisiert. Da ist es endlich an der Zeit, ein Stoppschild aufzustellen. Wir könnten Vucic deutlich machen: Er bekommt kein Geld mehr aus Brüssel, wenn er diese aggressive Politik fortsetzt.

Lesen Sie auch: Darum geht es im Konflikt zwischen Serbien und Kosovo

Warum kann sich die Europäische Union aus Ihrer Sicht nicht zu solchen Schritten durchringen?

Wir leiden unter dem Prinzip der Einstimmigkeit. Wenn ich also Brüssel kritisiere, kritisiere ich immer auch die europäischen Hauptstädte, weil gerade in der Außen- und Sicherheitspolitik Entscheidungen nur einstimmig getroffen werden können. Die EU kann nur so gut sein, wie es die Mitgliedstaaten ihr erlauben. Es hilft aber nicht, sich immer nur hinter den komplizierten Verfahren zu verstecken.

Warum?

Führung wird aus Mut gemacht. Manchmal entsteht der Eindruck, Europa müsse zunächst interne Reformen auf den Weg bringen, um handlungsfähig zu werden. So funktioniert Geschichte nicht, und so funktioniert die Welt nicht. Da wartet niemand auf uns. Die EU könnte schon jetzt viel aktiver auftreten, ohne gleich ihre Verträge ändern zu müssen. Mit geht es dabei weniger um militärische Macht, sondern darum, was wir diplomatisch und wirtschaftlich in die Waagschale werfen können. Aserbaidschan ist wirtschaftlich deutlich abhängiger von Europa als wir vom aserischen Gas. Auch Herr Vucic in Serbien weiß: Am Ende will die Mehrheit seiner Bürgerinnen und Bürger so leben wie wir in der EU – und nicht in einer Diktatur wie die Russinnen und Russen.

Michael Roth: "EU-Erweiterungsprozess krankt an gebrochenen Versprechen"

Sie sind klarer Befürworter einer EU-Beitrittsperspektive für die Ukraine. Warum?

Alle bisherigen Strategien, einen Ring von Freunden um die EU herum zu legen, sind gescheitert. Durch die EU-Nachbarschaftspolitik konnten wir unsere Umgebung nicht dauerhaft stabilisieren. Im Gegenteil: An vielen Orten brennt es lichterloh. Ehrlich gesagt, finde ich es eine arrogante Attitüde, wenn wir sagen: Tut uns leid, aber wir sind noch nicht bereit für euren Beitritt. Die Menschen in der Ukraine – vor allem die junge Generation – wollen unseren Lebensweg und nicht den russischen. Wir sollten an die Erfolge der Erweiterungspolitik anknüpfen. Sie ist das beste Instrument zur Stabilisierung, Befriedung und Demokratisierung von Staaten, Gesellschaften und Regionen.

Allerdings warten die Staaten des Westbalkans schon deutlich länger auf einen EU-Beitritt.

Das stimmt. Wir müssen auch ihnen gegenüber endlich glaubwürdiger werden. Derzeit krankt der ganze Erweiterungsprozess an gebrochenen Versprechen, an langwierigen, komplizierten Verfahren und an nationalen Vetos. Wir haben von Nordmazedonien verlangt, dass es seinen Staatsnamen ändert. Das hat das Land gemacht – und nun fordert Bulgarien, dass für die 3.500 ethnischen Bulgaren in Nordmazedonien die Verfassung geändert wird. Uns wird immer wieder etwas Neues einfallen, wie wir diese Staaten abermals vor den Kopf stoßen. Doch wenn die EU zögert und zaudert, dann werden autoritäre Regime wie Russland, China oder die Türkei in dieses Vakuum stoßen.

Der frühere EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker sagt allerdings: Die Ukraine ist noch zu korrupt für einen EU-Beitritt.

Ich finde diese Kritik sehr vermessen. Die Ukraine steht derzeit im Krieg. Wie will man weitreichende Reformen von einem Parlament verlangen, dessen Abgeordnete nicht genau wissen, ob sie morgen noch in demselben Gebäude tagen oder es von russischen Raketen zerstört wurde? Und dennoch hat die Ukraine in den vergangenen Monaten große Fortschritte auf ihrem Weg in die EU gemacht.

Welches Datum wäre aus Ihrer Sicht realistisch für einen EU-Beitritt der Ukraine?

Es ist in unserem Interesse, wenn die ersten Staaten, die derzeit den Kandidatenstatus haben oder mit denen wir bereits Beitrittsverhandlungen führen, bis zum Jahr 2030 Mitglied der EU sind. Dafür bräuchten wir aber einen verbindlichen Fahrplan. Deutlich mehr Ehrgeiz täte Europa schon gut. Die Perspektive eines zeitnahen EU-Beitritts wäre ein Zeichen der Hoffnung für die Menschen in der Ukraine, die jeden Tag einen tapferen Verteidigungskrieg kämpfen.

Die deutsche Bundesregierung hat beschlossen, der Ukraine vorerst nicht die gewünschten Taurus-Marschflugkörper zu liefern. Enttäuscht Sie das?

Leider führen wir wieder mal mit aller Inbrunst eine Debatte über ein einzelnes Waffensystem. Ja, ich habe dafür geworben, dem Wunsch der Ukraine nach einer Taurus-Lieferung nachzukommen. Ich sehe aber auch, dass das eine komplizierte Angelegenheit ist. Die Verlässlichkeit von Deutschland bemisst sich nicht allein daran, ob wir dieses Waffensystem liefern. Sie bemisst sich an mehr Munition und mehr Flugabwehr. Wir müssen uns von der naiven Vorstellung verabschieden, dass es mit den Waffenlieferungen bald mal reicht.

Kritiker der Waffenlieferungen bemängeln, dass der Krieg dadurch in die Länge gezogen wird.

Ich sehe selbstverständlich auch die Notwendigkeit, alle diplomatischen Kanäle zu nutzen. Aber die militärische Stärke der Ukraine ist die Voraussetzung dafür, dass dieser Krieg am Verhandlungstisch beendet werden kann. Herr Putin hofft, dass in den westlichen Demokratien die Bereitschaft zur weiteren Unterstützung der Ukraine erlahmt. Und er hofft, dass sein alter Freundfeind Donald Trump wieder ins Weiße Haus einzieht und sich die USA dann möglicherweise komplett aus der Unterstützung der Ukraine zurückziehen. Die größte Gefahr geht aber nicht von Trump aus, sondern von Putin. Wenn der russische Imperialismus gewinnt, wird er sich neue Opfer in Osteuropa suchen.

Über den Gesprächspartner:

  • Michael Roth wurde 1970 im hessischen Heringen (Kreis Hersfeld-Rotenburg) geboren. Er studierte in Frankfurt Politologie, Öffentliches Recht, Germanistik und Soziologie und arbeitete am Otto-Suhr-Institut für Politikwissenschaften der Freien Universität Berlin. Seit 1998 sitzt er für die SPD und als direktgewählter Abgeordneter des Wahlkreises Werra-Meißner-Hersfeld-Rotenburg im Bundestag. 2013 bis 2021 war er Staatsminister für Europa im Auswärtigen Amt. Seit 2021 ist der 53-Jährige Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses im Bundestag.
JTI zertifiziert JTI zertifiziert

"So arbeitet die Redaktion" informiert Sie, wann und worüber wir berichten, wie wir mit Fehlern umgehen und woher unsere Inhalte stammen. Bei der Berichterstattung halten wir uns an die Richtlinien der Journalism Trust Initiative.