Wie geht der Staat mit Menschen um, die nicht mehr leben wollen? Seit Jahren ist die Beihilfe zum Suizid erlaubt, aber nicht geregelt. Jetzt wollen Bundestagsabgeordnete einen neuen Anlauf wagen.

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Die Deutschen sind bekannt für ihre Vorliebe für Regeln und Vorschriften. Doch ausgerechnet bei einer Frage über Leben und Tod herrscht seit Jahren Gesetzlosigkeit: Wie geht der Staat mit Menschen um, die nicht mehr weiterleben wollen? Muss es für sie einen Weg geben, um in Würde zu sterben? Oder ist es vielmehr eine staatliche Aufgabe, Menschen möglichst von einem Suizid abzuhalten?

Seit Jahren sucht die Politik eine Antwort auf diese Frage. Gefunden hat sie diese bisher nicht. Im vergangenen Juli scheiterten zwei sehr unterschiedliche Gesetzentwürfe im Bundestag. Nun könnte mit einem dritten Vorschlag zumindest neue Bewegung in das Thema kommen.

Sterbehilfevereine leisten Suizidhilfe

Zunächst zur Ausgangslage: Die aktive Sterbehilfe ist in Deutschland strafbar – und wird es wohl auch bleiben. Anders ist das bei der Beihilfe zum Suizid. Lange war sie verboten. Wer einem anderen Menschen half, sich das Leben zu nehmen, riskierte eine Haftstrafe.

Sterbe- und Suizidhilfe: Was erlaubt ist und was nicht

  • Aktive Sterbehilfe ist strafbar: Jemand führt gezielt den Tod einer anderen Person herbei, etwa indem er ein tödlich wirksames Medikament verabreicht. Unterschied zur indirekten Sterbehilfe: Der Tod ist nicht nur in Kauf genommen, sondern beabsichtigt.
  • Passive Sterbehilfe ist erlaubt: Eine schmerzlindernde Behandlung und Grundpflege des Patienten bleibt, aber es wird auf lebensverlängernde Maßnahmen verzichtet.
  • "Indirekte Sterbehilfe" ist erlaubt: Die Schmerzen des Patienten werden so behandelt, dass ein früherer Tod als mögliche Nebenwirkung der Medikamente nicht angestrebt, aber in Kauf genommen wird. Man spricht hier auch von Sterbebegleitung.
  • Beihilfe zum Suizid ist erlaubt: Eine Person beschafft einer schwerkranken oder sterbewilligen Person in diesem Fall ein tödliches Mittel, das der Patient selbst einnimmt. Da Suizid nicht strafbar ist, ist auch die Beihilfe nicht strafbar. (af)

Das Bundesverfassungsgericht erklärte den entsprechenden Paragrafen im Strafgesetzbuch aber im Februar 2020 für unzulässig. Die Begründung des Gerichts: Das allgemeine Persönlichkeitsrecht in Artikel 2 des Grundgesetzes umfasst auch das Recht auf selbstbestimmtes Sterben – und dazu gehört auch das Recht, sich das Leben zu nehmen.

Faktisch ist die geschäftsmäßige Beihilfe zum Suizid seitdem erlaubt, allerdings sozusagen privatisiert: Über die Mitgliedschaft in Sterbehilfe-Vereinen können sich Suizidwillige tödliche Medikamente besorgen. Im Jahr 2021 zum Beispiel passierte das der Tagesschau zufolge in rund 350 Fällen.

Zwei Entwürfe ohne Mehrheit im Bundestag

Seit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts befindet sich das Thema in einer rechtlichen Grauzone: Das Verbot im Strafgesetzbuch ist aufgehoben, ansonsten gibt es keine staatlichen Regeln. Auch viele Ärztinnen und Ärzte, die derzeit ebenfalls bei einem Suizid helfen dürfen, sind verunsichert.

Im vergangenen Jahr wollten zwei parteiübergreifende Gruppen von Bundestagsabgeordneten diesen Zustand eigentlich ändern. Sie legten jeweils einen Gesetzentwurf vor – die Vorstöße zielten in unterschiedliche Richtungen.

  • Der "liberale" Gesetzentwurf: Eine Gruppe um die Abgeordneten Katrin Helling-Plahr (FDP) und Renate Künast (Grüne) wollte das Recht auf Hilfe zur Selbsttötung gesetzlich verankern. Ärzte und Ärztinnen sollten ein tödliches Medikament verschreiben dürfen, wenn Sterbewillige sich zuvor über Folgen und Alternativen beraten ließen. Ohne diese Möglichkeit und ohne ein flächendeckendes Beratungsangebot würden zum Beispiel unheilbar kranke Menschen sich auf weniger würdevolle Weise das Leben nehmen – so das Argument für diesen liberalen Gesetzesentwurf. "Wir dürfen weder Grauzonen noch brutale Formen des Suizids als Lösung akzeptieren", sagt Helling-Plahr.
  • Der "konservativere" Gesetzentwurf: Eine andere Gruppe um Lars Castellucci (SPD) und Ansgar Heveling (CDU) wollte der Suizidhilfe wieder höhere Hürden setzen. Sie wollte am Verbot im Strafgesetzbuch festhalten. Erlaubt sein sollte die Suizidhilfe nur, wenn ein nicht beteiligter Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie bescheinigt, dass der Sterbewunsch "freiwillig, ernsthaft und dauerhaft" ist und nicht auf einer psychischen Erkrankung beruht. Zudem sollte ein weiteres Gespräch bei einem Mediziner oder Psychotherapeuten oder einer Beratungsstelle nötig sein. Gerade depressive Menschen müssten vor einer zu einfachen Entscheidung geschützt werden, hieß es. Suizid dürfe keine Normalität werden.

Am Ende fand keiner der beiden Gesetzentwürfe eine Mehrheit im Bundestag. Manche Abgeordnete fanden den einen Vorstoß zu liberal und den anderen zu konservativ. Andere lehnten es per se ab, die Suizidhilfe zu erlauben. Und einzelne Parlamentarier hatten sich im Vorfeld wohl auch einfach zu wenig mit der ethisch heiklen Frage beschäftigt.

"Die derzeitige Rechtslage ist unbefriedigend, daran besteht für mich kein Zweifel."

Katrin Helling-Plahr (FDP)

Dabei dürften sich viele Abgeordnete in einer Einschätzung einig sein: Wie es ist, kann es nicht bleiben. "Die derzeitige Rechtslage ist unbefriedigend, daran besteht für mich kein Zweifel", sagt Katrin Helling-Plahr. Es sei ein Gebot der Stunde, "dass Betroffene klare rechtliche Rahmenbedingungen erhalten und nicht vom Staat allein gelassen werden."

Armin Grau: "Versuchen, einen einigungsfähigen Vorschlag zu entwickeln"

Möglicherweise gibt es demnächst einen nächsten Versuch und ein drittes Modell. Eine Gruppe um den Arzt und Grünen-Abgeordneten Armin Grau hat ein Eckpunktepapier verfasst und es mit weiteren Mitgliedern des Bundestags besprochen. "Wir versuchen, einen mit beiden Gruppen einigungsfähigen Vorschlag zu entwickeln. Ob das gelingt, ist zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht klar. Wir sind jedoch sehr optimistisch", erklärt Grau auf Anfrage unserer Redaktion.

Bisher ist ein assistierter Suizid fast nur mithilfe von privaten Sterbehilfevereinen möglich. Das kann aus Sicht von Grau nicht so bleiben. "Wir halten eine zeitnahe Regelung für erforderlich, weil wir diese aktuelle Praxis in Deutschland für unbefriedigend halten", sagt er.

Zu Einzelheiten äußert sich die Gruppe noch nicht. Wahrscheinlich liegen ihre Pläne aber etwa in der Mitte der beiden bisherigen Entwürfe. Aus beiden will sie Elemente aufnehmen. "Wir wollen dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Suizidhilfe entsprechend eine Regelung vorlegen, die dem Recht auf selbstbestimmtes Sterben gerecht wird und gleichzeitig ein angemessenes Schutzkonzept für Suizidwillige beinhaltet", sagt Grau.

Es müsse immer feststehen, dass der Sterbewunsch aus dem selbst gebildeten Willen heraus entstanden und dauerhaft ist. Darauf legt auch der "konservativere" Gesetzentwurf von Castellucci und Heveling Wert. So soll verhindert werden, dass sich alte Menschen praktisch zum Suizid gedrängt fühlen, weil sie niemandem zur Last fallen wollen. Und es soll verhindert werden, dass depressive Menschen in einer schwierigen Phase zu leichtfertig zu einem tödlichen Medikament greifen können.

In einem anderen Punkt ist sich die Gruppe um Armin Grau dagegen mit den Abgeordneten um Kathrin Helling-Plahr einig: Sie wollen eine Regelung "primär außerhalb des Strafgesetzbuchs". Das Argument hier lautet: Wenn Beihilfe zum Suizid strafrechtlich verboten wäre, würden Ärztinnen und Ärzte sich nicht an diese Beihilfe herantrauen – auch nicht in Fällen, in denen sie sinnvoll wäre.

Auch andere Gruppen loten Mehrheiten aus

Vor den Parlamentarierinnen und Parlamentarier dürften schwierige Verhandlungen liegen. Ethische und medizinische Fragen müssen sie ebenso abwägen wie juristische Anforderungen. Auch die beiden "älteren" Abgeordnetengruppen arbeiten weiter an ihren Gesetzentwürfen, um bei einer möglichen neuen Abstimmung doch in Richtung einer Mehrheit zu kommen.

Man arbeite weiter an einem liberalen Suizidhilfegesetz, sagt FDP-Politikerin Helling-Plahr. Zu ihrer Gruppe gehören inzwischen Abgeordnete "aller demokratischen Fraktionen". Das gilt auch für die Gruppe um den Sozialdemokraten Castellucci, die im Juni etwas mehr Stimmen hinter sich vereinen konnte. Sie lote ebenfalls aus, welche Änderungen dem eigenen Gesetzentwurf zu einer Mehrheit verhelfen könnten, sagt Castellucci.

Gleichwohl drängt die Zeit. Bis zum nächsten Wahlkampf bleiben noch gut anderthalb Jahre. Lars Castellucci sagt: "Wir Parlamentarierinnen und Parlamentarier müssen die Kraft finden, diese ethisch schwierige Frage trotz aller anderen belastenden Themen in dieser Wahlperiode zu stemmen."

Hilfsangebote

  • Wenn Sie oder eine Ihnen nahestehende Person von Suizid-Gedanken betroffen sind, wenden Sie sich bitte an die Telefon-Seelsorge unter der Telefonnummer 0800/1110-111 (Deutschland), 142 (Österreich), 143 (Schweiz).
  • Anlaufstellen für verschiedene Krisensituationen im Überblick finden Sie hier.

Verwendete Quellen

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