Der Bundestag hat im vergangenen Sommer für einen Antrag gestimmt, der Lücken bei der Suizidprävention schließen soll. Eigentlich hätte die Regierung bereits einen ersten Entwurf für ein Gesetz vorlegen sollen. Doch dieser verzögert sich. Dabei gibt es aktuell dringenden Handlungsbedarf.

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Es kommt nicht oft vor, dass fast alle 736 Abgeordneten im Deutschen Bundestag einer Meinung sind. Der 5. Juli 2023 war solch ein Tag.

An diesem Mittwoch verabschiedeten die Parlamentarier ein Gesetz, das mit einer klaren Aufforderung verbunden war: Angesichts von über 10.000 Suiziden pro Jahr solle die Bundesregierung ein Konzept entwickeln, um die Prävention von Selbsttötungen zu verbessern. Ziel ist unter anderem, dass Menschen mit Suizidgedanken und ihre Angehörigen "rund um die Uhr online und unter einer bundeseinheitlichen Telefonnummer sofortigen Kontakt mit geschulten Ansprechpartnern erhalten".

Auch von breiten Aufklärungskampagnen, verpflichtenden Vorschriften im Baurecht oder einem Aufwuchs an Forschungsmitteln ist die Rede. Angenommen wurde der Antrag mit 687 Ja-Stimmen und einigen Enthaltungen. Lediglich der SPD-Abgeordnete Mahmut Özdemir stimmte dagegen – und das auch nur versehentlich, wie er später auf der Website "Abgeordnetenwatch" einräumte.

In einem Punkt wurde der Antrag dabei besonders konkret: dem Zeitplan für das Gesetz. Bis zum 31. Januar sollte das Haus von Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) dem Parlament ein erstes Konzept vorlegen. Dieser Rahmen sollte wiederum innerhalb von weiteren fünf Monaten in ein Gesetz überführt werden.

Da Organisationen wie das mit hochkarätigen Wissenschaftlern besetzte und vom Bundesgesundheitsministerium co-finanzierte Nationale Suizidpräventionsprogramm schon seit Jahren mit klugen Vorschlägen in den Startlöchern stehen, erschien dieser Zeitplan machbar. Eigentlich. Denn spricht man in diesen Tagen mit den beteiligten Parlamentariern, dann ist der Frust groß. Von einer "Missachtung des Parlaments" ist die Rede. Von einem "echten Affront". Was also ist passiert?

CDU-Abgeordneter: Entscheidung um Leben und Tod wird durch Reibereien verzögert

Um genau zu sein: Nichts, das ist das Problem. Mehr als einen Monat nach Verstreichen der ersten Frist liegt bislang kein Konzept auf dem Schreibtisch der Parlamentarier. Und fragt man Michael Brand, der für die CDU am Antrag mitgearbeitet hat, spricht vieles dafür, dass auch im April kein fertiges Gesetz den Bundestag erreichen wird.

"Die Bundesregierung hat leider einmal mehr, selbst in dieser wichtigen Frage, den Deutschen Bundestag und seine Forderungen ignoriert", sagt Brand im Gespräch mit unserer Redaktion. "Statt solche grundlegenden Fragen, sprichwörtlich auf Leben und Tod, endlich anzupacken", werde Zeit für Reibereien innerhalb der Regierung verschwendet.

Was Brand hauptsächlich stört: Angesichts der überwältigenden Mehrheit für den Entwurf gibt es keine sachlichen Gründe für die Verzögerung. "Es ist absolut nicht nachvollziehbar, warum die Bundesregierung die vorhandene Expertise nicht nutzt und dieses so gefährliche Thema weiter auf die lange Bank schiebt", sagt Brand.

Tatsächlich kommt die Verzögerung zur Unzeit. Zum ersten Mal seit vielen Jahren steigen die Suizidzahlen wieder an, Prävention wäre also nötiger denn je. So nahmen sich im Jahr 2022 10.119 Menschen das Leben - das sind etwa viermal so viele Tote wie im Straßenverkehr (2023: 2.830).

Weitere 100.000 Menschen haben versucht, ihrem Leben ein Ende zu setzen. "Dieser prozentuale Anstieg um 9,8 Prozent ist der stärkste in einem Jahr seit 1980", schreibt das Nationale Suizidpräventionsprogramm in einer Stellungnahme.

Besonders betroffen sind demnach Männer, deren Anzahl in allen Altersgruppen jene der Frauen deutlich übersteigt. Unterschiede gibt es zudem im Vergleich zwischen den Bundesländern. So verzeichnet Sachsen mit einer Suizidrate von 17,2 Suiziden auf 100.000 Lebende den höchsten Wert, während Bremen und Nordrhein-Westfalen mit einer Suizidziffer von 9 die niedrigste Selbsttötungsrate haben.

Eine Erklärung dafür: Die Verteilung von Hilfsangeboten innerhalb der Bundesrepublik ist ungefähr so löchrig wie ein Schweizer Käse. Und genau das soll nach dem Vorschlag der Parlamentarier in Zukunft verbessert werden.

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Deutschland mangelt es an niedrigschwelliger Suizid-Prävention

Dass flächendeckende Aufklärung und rund um die Uhr erreichbare Hilfsangebote zu den wichtigsten Maßnahmen gehören, um Menschen vom Suizid abzuhalten, darauf hat das Nationale Suizidpräventionsprogramm (NaSPro) schon vor drei Jahren in einem umfangreichen Bericht hingewiesen. In Deutschland, so schreiben es die Wissenschaftler in dem 260 Seiten umfangreichen Dokument, mangele es vor allem an niedrigschwelliger Suizidprävention wie Telefon-Hotlines, Online-Chats oder Foren. Auch Einrichtungen wie lokale Krisendienste, Beratungsstellen oder Selbsthilfegruppen seien zu wenig vorhanden. Und die, die es gibt, seien noch dazu häufig überfüllt.

Als zweite wichtige Präventionsmaßnahme sehen die Forscher außerdem, den Zugang zu Suizidmitteln zu erschweren. "Gerade an sogenannten Hotspots, an denen sich häufig Menschen das Leben nehmen, können durch bauliche Maßnahmen diese Gefahren entschärft werden", heißt es in dem Bericht.

Bestimmte Bauwerke, so belegen es auch Studien, ziehen Suizidgefährdete fast magisch an. Dazu gehören Brücken, hohe Gebäude, Bahnhöfe oder das Gleisnetz der Deutschen Bahn. Wird über die Suizide in den Medien berichtete, lenkt dies zusätzliche Aufmerksamkeit auf den Ort des Geschehens.

Ein Beispiel dafür, wie niedrigschwellige Maßnahmen Leben retten können, ist die Bundesstraße B19 bei Würzburg. Eine knapp 55 Meter hohe Brücke über der Fahrbahn galt jahrelang als der Suizid-Hotspot schlechthin in Deutschland, bis die Stadt das Bauwerk 2008 mit einem 2,20 Meter hohen Schutzgitter sicherte. Bis zu diesem Zeitpunkt sprangen mehr als 200 Menschen auf die B19 in den Tod – seit der Maßnahme liegt der Wert nun bei 0. Kostenpunkt für das lebensrettende Gitter: Gerade einmal 62.000 Euro.

Wer einmal einen Suizid versucht, probiert es meist kein zweites Mal

Ähnliches gilt auch für die Golden Gate Bridge in San Francisco, wo es durch eine Reihe von Maßnahmen gelang, über 500 Menschen vom Sprung in den Pazifik abzuhalten. Das Verblüffende: Lediglich fünf Prozent der Überlebenden haben sich später auf andere Weise das Leben genommen.

Das gilt übrigens auch für jene, die nach ihrem Sprung im Sicherheitsnetz der Brücke landeten. Denn auch das ist ein Ergebnis der Suizidforschung: Wem die gewählte Methode nicht mehr zur Verfügung steht, versucht es oft kein zweites Mal. Oftmals entscheiden Zufälle über Leben und Tod.

Aus ähnlichen Gründen raten die Forscher des Gremiums daher auch, den Zugang zu tödlich wirkenden Medikamenten und Chemikalien zu erschweren. So sank die Zahl der Selbsttötungen durch Schmerzmittel in England und Wales von durchschnittlich 156 auf 88 pro Jahr und damit um 44 Prozent, nachdem die Zahl von Schmerztabletten pro Packung verringert worden war.

Ein weiteres Beispiel: In südindischen Dörfern, in denen der Zugang zu Pestiziden eingeschränkt wurde, indem sie statt zu Hause zentral und öffentlich gelagert wurden, sank die Zahl der Selbsttötungen um 80 Prozent.

Künstliche Intelligenz als Hoffnungsträger in der Suizidforschung

Und dann wäre da noch der dritte große Bereich, der nach Meinung der Wissenschaftler dringend ausgebaut werden müsste: die Forschung. Bis heute können sich Forscher nur oberflächlich erklären, welche Faktoren zusammenkommen müssen, damit Menschen die Absicht, ihrem Leben ein Ende zu setzen, verwirklichen.

Warum etwa haben Länder, in denen eine hohe Lebenszufriedenheit herrscht, tendenziell höhere Suizidraten? Wieso werden die meisten Suizide im späten Frühjahr sowie im Frühsommer und nicht etwa in den dunklen Jahreszeiten begangen? Und wieso ist die Wahrscheinlichkeit, einen Suizid vorherzusagen, kaum größer, als einen Zufallsgenerator zu befragen, wie zuletzt eine Metastudie in der Fachzeitung "Psychological Bulletin" zeigte?

Um Antworten auf diese Fragen zu bekommen und gefährdete Menschen zielgerichtet ansprechen zu können, ist noch einiges an Grundlagenforschung notwendig. Die größte Hoffnung der Wissenschaftler liegt derzeit im Bereich der Künstlichen Intelligenz. Sie kann etwa Patientenakten auf Auffälligkeiten überprüfen oder anhand verdächtiger Beiträge und Kommentare im Internet bessere Prognosen machen.

Klar ist: Fast alle dieser Maßnahmen kosten Geld. Doch ohne einen Gesetzentwurf wird kein Cent aus dem Bundeshaushalt in die Suizidprävention fließen. Daher haben die Abgeordneten die eindeutige Erwartung, dass das Gesundheitsministerium nun die zweite wichtige Deadline im Juni einhält und einen Gesetzentwurf vorlegt, der den Einstieg in das parlamentarische Verfahren ermöglicht.

Ob Karl Lauterbach und seine Beamten diesmal liefern? Unklar. Zumindest festlegen will man sich bislang nicht. Auf eine entsprechende Anfrage an das Ministerium antwortete eine Sprecherin mit dem Verweis auf die laufenden Arbeiten am Gesetzentwurf: "Ich kann dem leider nicht vorgreifen."

Hilfsangebote

  • Wenn Sie oder eine Ihnen nahestehende Person von Suizid-Gedanken betroffen sind, wenden Sie sich bitte an die Telefon-Seelsorge unter der Telefonnummer 0800/1110-111 (Deutschland), 142 (Österreich), 143 (Schweiz).
  • Anlaufstellen für verschiedene Krisensituationen im Überblick finden Sie hier.

Verwendete Quellen

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