Als die türkischen Truppen in Syrien einmarschierten, ließ die internationale Gemeinschaft Erdogan ohne nennenswerten Widerstand gewähren. Nun scheint sie eher hilflos in dem Versuch, ihn zu bremsen. Prof. Günter Meyer, Leiter des Zentrums für Forschung zur Arabischen Welt an der Universität Mainz, erläutert im Interview, warum der türkische Präsident damit durchkommt - und seiner Meinung nach am Ende dennoch scheitern wird.

Ein Interview

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Herr Professor Meyer, der Konflikt um Syrien weitet sich aus. Warum unternehmen eigentlich die Vereinten Nationen und der Sicherheitsrat nichts?

Prof. Günter Meyer: Fünf europäische Staaten haben schon am vergangenen Donnerstag im UN-Sicherheitsrat von der Türkei "die Beendigung der einseitigen Militäraktion" gefordert. Aber sowohl die USA als auch Russland haben mit ihrem Veto die Verurteilung der völkerrechtswidrigen türkischen Invasion in Nordsyrien verhindert. Die US-Vertreterin im Sicherheitsrat hat ihr Veto nicht einmal begründet. Von diesen Institutionen ist auch weiterhin kein Impuls zu erwarten.

Warum behindern die beiden Weltmächte Initiativen gegen den Konflikt?

Sie wollen ihren Einfluss in der Türkei nicht verlieren. Erdogan weiß, dass er mit der geostrategischen, militärischen und wirtschaftlichen Position seines Landes wichtige Trümpfe in der Hand hat. Trumps Twitter-Nachricht, in der er drohte, die türkische Wirtschaft "völlig zu zerstören und auszulöschen", wird in Ankara nicht ernst genommen.

Die Nato will den Konflikt befrieden, warnt aber gleichzeitig davor, im Ernstfall dem Nato-Partner Türkei beistehen zu müssen. Steckt das Verteidigungsbündnis in einer Loyalitäts-Zwickmühle?

Der Nato ist sehr wohl bewusst, dass sie die Türkei nach wie vor braucht. Deshalb hat Generalsekretär Jens Stoltenberg kürzlich bei seinem Besuch in Ankara nicht einmal milde Kritik an dem türkischen Angriff geäußert und stattdessen die "legitimen Sicherheitsinteressen der Türkei" gewürdigt.

Aber von einer Beistandspflicht kann in diesem Fall keine Rede sein. Die Nato wird argumentieren, dass es sich um einen Krieg handelt, den die Türkei im Ausland führt. Sie wird auf keinen Fall akzeptieren, dass Erdogan sich als den Angegriffenen ausgibt.

Auch wenn Europa die kurdische PKK als Terrororganisation eingestuft hat, auch wenn die YPG der syrischen Kurden als Ableger dieser PKK gilt – das ändert nichts daran, dass es seit Jahren keine Bedrohung der Türkei aus syrischem Gebiet gegeben hat.

Aber warum bekämpft Erdogan die Kurden dann so fanatisch?

Er erklärt, im syrischen Grenzgebiet eine "Sicherheitszone" einrichten und dort syrische Flüchtlinge ansiedeln zu wollen. Grundsätzlich geht es ihm aber darum, seinen Einfluss in Syrien und auf das angrenzende Mittelmeergebiet auszudehnen.

Ein wichtiger Schritt wäre es daher für seine Zwecke, die M4 unter seine Kontrolle zu bekommen – die wichtigste Ost-West-Verbindung im Norden Syriens. Diese Autobahn ist wohl sein Hauptanliegen.

Wie könnte Deutschland in diesem Konflikt eingreifen?

Es ist sehr bezeichnend für die mangelhafte politische Übereinstimmung in der EU, dass sie sich sehr moderat verhält. Das von Deutschland verhängte Verbot von Waffenlieferungen in die Türkei und die Androhung von EU-Sanktionen aus Paris sind vor allem Reaktionen auf innenpolitische Kritik am zurückhaltenden Vorgehen gegen Ankara.

Vom angekündigten Stopp deutscher Rüstungslieferungen sind bestehende Lieferverträge ausgenommen – allein in den ersten vier Monaten des laufenden Jahres hat Deutschland Rüstungsgüter im Wert von 184 Millionen Euro an die Türkei verkauft. Seit dem Jahr 2000 war es sogar ein Wert von 1,7 Milliarden.

Und Erdogan hält noch eine weitere Trumpfkarte in der Hand …

Genau: die syrischen Flüchtlinge in seinem Land. Seine Drohung ist ernst zu nehmen: "Hey EU, wach auf! [...] Wenn du versuchst, unsere Operation als Invasion darzustellen, ist unsere Aufgabe einfach: Wir werden die Tore öffnen und euch 3,6 Millionen Flüchtlinge schicken." [Das sagte Erdogan am Donnerstag vor Politikern der Regierungspartei AKP in Ankara; Anm.d.Red.]

Das ist Erpressung! Donald Tusk als Präsident des Europäischen Rates hat sie zurückgewiesen – aber sie ist in den europäischen Hauptstädten durchaus als reale Bedrohung verstanden worden.

Was geschieht mit den Kurden? Werden Sie in dieser Auseinandersetzung zwischen den Fronten zerrieben?

Die Kurden haben sich hilfesuchend an das Assad-Regime gewandt – und sich so für das geringere Übel entschieden. Ihre Autonomiepläne sind damit geplatzt, die syrische Regierung wird wieder die Kontrolle über den Nordosten des Landes übernehmen.

In den von den Kurden besetzten Gebieten machen diese nicht einmal die Hälfte der Bevölkerung aus – die Araber in der Region fühlten sich unterdrückt und freuen sich deshalb jetzt, dass die Assad-Regierung zurückkommt. Aber Kurden und vor allem die Aktivisten von der YPG sind die großen Verlierer.

Sehen Sie eine Chance, dass sich die Weltmächte Russland und USA doch noch auf ein gemeinsames Vorgehen in Syrien verständigen?

Die USA sind raus aus diesem Spiel, nur Putin und Assad sind die Gewinner und bleiben auf dem Vormarsch. Erdogan sagt zwar, er werde auf jeden Fall seine "Sicherheitszone" durchsetzen. Aber nachdem sich nun russische Truppen zwischen Kurden und Assads Regierungstruppen positioniert haben, ist das völlig unrealistisch. Es ist nur eine Frage der Zeit, wann die Türkei die Kämpfe einstellen muss.

Hat das innenpolitische Folgen für Erdogan?

Nach den Entwicklungen der letzten Tage ist ein Scheitern der Pläne von Erdogan nicht mehr zu vermeiden. Die geostrategische Situation hat sich völlig gegen ihn gewendet. Es ist durchaus fraglich, ob er sich von diesem massiven politischen Rückschlag erholen kann, nachdem er schon bei den letzten Wahlen die Mehrheit in Istanbul und Ankara, den beiden größten Städten der Türkei, verloren hat.

Über den Gesprächspartner: Prof. Günter Meyer ist Leiter des Zentrums für Forschung zur Arabischen Welt an der Universität Mainz.
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